Morgenandacht
In der Schwäche die Kraft
21.01.2020 05:35
Sendung zum Nachlesen

Ein alter, alleinstehender, etwas griesgrämiger Mann spielt die Hauptrolle in dem wundervollen Animationsfilm „Oben!“. Der alte Mann kann nur schwer hören – ohne sein Hörgerät eigentlich gar nichts. Und da kommt eines Tages ein kleiner geschwätziger Pfadfinder zu ihm ins Haus, sehr bald geht der ihm mit seinem Redefluss auf die Nerven. Da er ihn nicht einfach loswerden kann – der Kleine muss heute noch unbedingt eine „gute Tat“ für einen Senioren tun! - dreht der alte Mann einfach sein Hörgerät auf Null. Und schon kann er‘s aushalten mit dem kleinen Gutmenschen: er hört einfach nichts mehr. Sonst würde er nämlich über kurz oder lang explodieren.

 

Und dann begeben sich die beiden im Film auf eine lange Reise im Ballon. Neben vielen anderen Abenteuern werden die beiden an einer Stelle plötzlich von zähnefletschenden bissigen Hunden umringt. Zum Glück findet der alte Mann sehr schnell heraus, dass der unangenehme durchdringende Pfeifton, den sein Hörgerät bei falscher Einstellung von sich gibt, den Hunden noch viel unangenehmer ist als ihm selbst. Und so dreht er den Pfeifton auf maximale Lautstärke, und die bedrohlichen Hunde ziehen den Schwanz ein und hauen winselnd ab. Das unangenehme Hörgerät – in Wahrheit: die Schwerhörigkeit des alten Mannes! - hat ihnen beiden das Leben gerettet.

 

Diese beiden Szenen zeigen: Das, was im Alltag eigentlich eine Behinderung, eine Schwäche ist, kann auch eine Stärke sein.

 

Eine ganze Reihe von Märchen weiß davon zu erzählen. Zum Beispiel in den Grimmschen Märchen „Die Bienenkönigin“. Drei Königssöhne erhalten einen Auftrag von ihrem Vater. Zwei von ihnen sind Draufgänger – stark, mutig, voller Selbstvertrauen; denen kann keiner! Der dritte Bruder gilt als der „Dummling“ in der Familie: vermutlich naiv, vielleicht auch ein bisschen schüchtern oder „zurückgeblieben“. Jedenfalls ist er nicht so durchsetzungsfähig wie die beiden andern. Dem dritten kann jeder! Der setzt sich nicht über andere hinweg. Im Gegenteil: Er setzt sich für andere ein! Er hat eine Schwäche für die Schwachen, die Verletzlichen. Und sie erweist sich als seine Stärke! Diese drei Brüder nun begegnen im Märchen Bienen – mit denen sie sehr unterschiedlich umgehen. Die älteren Brüder wollen die Bienen ihre Überlegenheit spüren lassen. Der Jüngste aber beschützt sie! Und das geht so weiter: Die beiden starken Brüder wollen, wenn es drauf ankommt, alles allein machen – der Jüngste kann sich helfen lassen. Nämlich von den Bienen, die er vorher verschont hat.

 

Sich helfen lassen, zum Beispiel um Rat fragen, das gilt ja bis heute als Zeichen von Schwäche: Und auch, wenn ich es besser weiß – ich frage nicht gern nach dem Weg. Und irre lieber eine Weile umher. Dabei ist es doch einfach: zugeben, etwas nicht zu wissen und um Hilfe bitten. Und so mein Ziel viel schneller und leichter erreichen. Die Königstochter im Märchen bekommt am Ende der Kleine, der Dumme, der Zurückgebliebene, der mit der Schwäche für die Schwachen, der, der sich nicht zu schade ist, sich helfen zu lassen.

 

Das ist zum Glück nicht nur ein Märchenmotiv. Der Apostel Paulus hat sich selbst als so einen Menschen gesehen, der in seiner Schwachheit seine Stärke entdeckt. Er schreibt in einem seiner Briefe: „Christus hat mir gesagt: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ [2. Kor 12, 9] Paulus litt an einer Krankheit, die ihm sehr zu schaffen machte und seine Leistungsfähigkeit erheblich einschränkte. Und gerade darin erfuhr er, dass er sich nicht einfach auf sich selbst und seine Kraft verlassen konnte. Sondern dass er manchmal getragen werden musste.

Sich tragen lassen können – das ist eine Kraftquelle.

 

Es gilt das gesprochene Wort.