Morgenandacht
Zweite Chance
20.01.2020 05:35
Sendung zum Nachlesen

Es ging spazieren vor dem Tor

ein kohlpechrabenschwarzer Mohr.

Die Sonne schien ihm aufs Gehirn,

da nahm er einen Sonnenschirm.

 

Und so weiter. Sie ist bekannt, die Geschichte aus dem „Struwwelpeter“ - dem ungemein populären Kinderbuch aus dem 19. Jahrhundert. Es war damals als Benimmbuch für Kinder gedacht – voller Warnungen vor allem möglichen Fehlverhalten. Und war weit verbreitet – bis ins 20. Jahrhundert. Viele kennen es noch aus ihrer eigenen Kindheit.

 

In dieser Geschichte von dem „kohlpechrabenschwarzen Mohren“ also sollte wohl Kindern beigebracht werden: es ist nicht schicklich, sich über Menschen mit dunkler Hautfarbe lustig zu machen. Da laufen nämlich drei Buben hinter dem Schwarzen her und lachen sich kaputt, weil er „so schwarz wie Tinte“ sei. Und dann kommt – das haben sie davon – der „große Nikolas mit seinem großen Tintenfass“ und steckt sie alle drei in eben diese Tinte. Und hinterher sind sie alle noch schwärzer als dieser „arme schwarze Mohr“.

 

Strafe muss sein, sagt diese Geschichte. Wie fast alle anderen Geschichten in dem Buch auch. Und so schwarz zu sein wie ein Afrikaner, ist offenbar eine Strafe. Er selbst kann zwar nichts dafür, dass er so schwarz ist, aber es ist schon eine Art Behinderung. Und darüber macht man sich nicht lustig. Man müsste eher Mitleid mit ihm haben.

 

Wirklich schwarz ist hier die Pädagogik des Buches, die Kindern mit schwarzer Hautfarbe als Strafe droht. Ein erschreckendes Menschenbild!

 

Der Autor des Buches, Heinrich Hoffmann, ist natürlich dem Menschenbild des 19. Jahrhunderts verhaftet. Und auch der gängigen Erziehungsmethode dieser Zeit. Dazu gehörte die Devise: Wer nicht hören will, muss fühlen. Und so werden die Kinder in den Geschichten dieses Buches grausam bestraft, wenn sie den Erwachsenen nicht gehorchen: Ihnen werden die Daumen abgeschnitten, sie verhungern, sie verbrennen, werden von Hunden gebissen. Und einer wird vom Wind auf Nimmerwiedersehen verweht. Verständnis für die Kinder wird nirgendwo gezeigt. Und Gnade vor Recht wird nicht gewährt im Struwwelpeter, nur an einer Stelle. Nämlich in der Geschichte vom Hans-guck-in-die-Luft:

 

Das war der Junge, der – statt auf den Weg vor ihm zu achten – ständig in die Luft schaut und träumt. Und dann kommt es, wie es kommen muss: Erst stolpert Hans über einen Hund, dann stürzt er schließlich in einen Fluss. Weil er gerade wieder in den Himmel gestarrt hat. Aber – und das ist ungewöhnlich im „Struwwelpeter“: Er ertrinkt nicht! Sondern wird gerettet. Zwei Männer fischen Hans mit langen Stangen aus dem Wasser. Und da steht er nun, kalt und klitschenass – aber er lebt! Und kann aus dieser Erfahrung etwas lernen. Das konnten die Verbrannten, Verhungerten, Verstümmelten und Vertriebenen nicht.

 

Man lässt einen andern, der sich unachtsam oder einfach dumm verhalten hat, nicht einfach seinen Fehler büßen, sondern zieht ihn, wenn nötig, aus dem Wasser. Das passt nicht in die schwarze, repressive Strafpädagogik des Struwwelpeter. Doch genau das ist einer der Grundzüge des menschlichen Miteinanders in der Bibel. So wie in der Geschichte vom „Verlorenen Sohn“ im Lukasevangelium: Der Sohn lässt sich sein Erbe auszahlen, verprasst es und steht dann mittellos da, ohne Arbeit, ohne Wohnung und Essen. Aber statt ihn die Folgen fühlen zu lassen, läuft ihm in der biblischen Geschichte der Vater entgegen, schließt ihn in die Arme und vergibt ihm [Luk 15, 11- 32].

Das ist Gnade vor Recht! Eine Ermutigungsgeschichte, keine Einschüchterungsgeschichte. Ich bin mir sicher: der Sohn hat danach sein Leben noch einmal ganz neu angefangen. Sicher bin ich mir auch – es sind solche Ermutigungsgeschichten, die nicht nur ins Regal, sondern in die Köpfe gehören.

 

Es gilt das gesprochene Wort.