Das Wort zum Jahresbeginn: "Jahreswende "
Pastorin Nora Steen
01.01.2013 21:45

Hoffentlich sind Sie gut ins neue Jahr gekommen und konnten den Sylvesterabend genießen – ob mit Freunden, der Familie oder auch allein – ob mit lautem Geböller oder ganz leise. Nun liegt es also vor uns da – dieses neue Jahr – ein Geschenk, das uns in den Schoß gelegt ist. 365 Tage Leben – so Gott will.

 

Ich halte einen Moment inne. So eine Jahreswende ist für mich, als ob ich mal zwischendurch die Stopptaste drücke; tief Atem hole, bevor es in ein paar Tagen wieder mit vollem Terminkalender und den Alltagsgeschäften weitergeht. Ich persönlich nutze diese Zäsur, die der Kalender festlegt und denke über das nach, was mir wichtig ist. Ich merke: Ich bin in diesen Tagen sensibler als sonst – für das, was mir fehlt, was ich mir für die Zukunft wünsche.

 

Zu meiner "Neujahrsstimmung" passt die Jahreslosung der Kirchen für das neue Jahr. Sie heißt: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." Ja, in diesem Satz finde ich mich wieder. Obwohl ich objektiv betrachtet wirklich ein gutes Leben habe – einen Beruf, der mir eine Herzensangelegenheit ist und eine Familie, die mich erfüllt – spüre ich immer wieder so eine Sehnsucht nach mehr. Ich wünsche mir, dass das ziemlich normale Leben, das ich führe, nicht alles gewesen ist. Dass es da außerhalb meinem kleinen privaten Welt etwas gibt, für das es sich zu leben lohnt.

 

Im Kloster Wülfinghausen, in dem ich als Pastorin arbeite, merke ich in unseren Kursen, wie viele Menschen einen ähnlichen Durst nach einem sinnerfüllten Leben haben. Zum Beispiel ein Ingenieur, Mitte vierzig. Materiell geht es ihm gut, aber trotzdem fehlt ihm etwas. Er sucht nach einer Neuorientierung in seinem Leben. Dafür nimmt er sogar weniger Einkommen in Kauf. Er will künftig einen Teil seiner Zeit älteren Menschen widmen. Ihnen vorlesen, einfach für sie da sein. Diese neue Tätigkeit erfüllt ihn, weil er viel an Dankbarkeit zurückbekommt. Auf einmal ist der Erfolg im Beruf, der vorher für ihn so einen hohen Stellenwert hatte, gar nicht mehr an erster Stelle.

Ich glaube, wir brauchen Orte, an denen man mal die Stopptaste drücken und einen Augenblick länger Atem holen kann als im Alltag – und das nicht nur zum Jahreswechsel. Kirchen und Klöster eignen sich besonders gut dafür. Sie haben Jahrhunderte alte Mauern, die getränkt sind von den Gebeten, den Tränen und den Sehnsüchten derer, die vor uns gelebt haben. Sie haben Bestand und sind doch zugleich zum Himmel offen.

 

Ich möchte in diesem neuen Jahr meine Sehnsucht nach Mehr nicht vergessen. Und ich möchte Ihnen für Ihren ganz persönlichen Jahresanfang Zeilen aus einem Gedicht von Nelly Sachs mit auf Ihren Weg geben: Alles beginnt mit der Sehnsucht, immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres. Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe. Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

 

Ich wünsche Ihnen ein frohes und gesegnetes Jahr 2013.

Sendeort und Mitwirkende

(NDR)
Senderbeauftragter Jan Dieckmann
Evangelisches Rundfunkreferat
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