Die Stadtkirche in Königslutter. Im mittelalterlichen Gewölbe blättert Farbe ab. Der Altarraum braucht einen neuen Anstrich, beschließt der Kirchenvorstand. Eigentlich keine große Sache – da kommt halt der Maler mit dem Pinsel und trägt auf die jahrhundertealten Mauern neue Farbe auf. Aber dann schaut jemand genauer hin: Unter dem Putz, der von der Decke bröselt, da oben über unseren Köpfen da ist doch etwas! Tatsächlich, Linien sind da zu sehen, sagt ein anderer. Irgendwas ist da – aber was? Ornamente? Ein Bild? Zeichnungen?
Also wird ein Restaurator beauftragt, er soll die rätselhaften Linien oben unter der Farbschicht freilegen. Der Restaurator bringt ein Gerüst mit und baut es unter dem Gewölbe auf. Dann beginnt er mit einem Pinsel die dünne Kalkschicht abzutragen. Feiner weißer Kalk, der so viele Jahre das Deckengewölbe bedeckte, rieselt sanft zu Boden – und tatsächlich – hinter der weißen Schicht kommt etwas zum Vorschein, etwas, das jahrhundertelang verborgen war. Der Restaurator entdeckt ein Gesicht und altertümliche Kleidung. Wer soll das sein? Ein Evangelist der Bibel vielleicht? Er arbeitet weiter, sieht das Haar und legt darüber einen Heiligenschein frei. Ist Jesus abgebildet? Oder ein Heiliger? Schließlich, als er die Kalkschicht weiter abträgt, entdeckt er prächtige Flügel. Nach und nach kommt ein Engel zum Vorschein.
Als der Restaurator den Engel zur Hälfte freigelegt hat, legt er den Pinsel weg und schaut sich den Engel hoch über ihm im Gewölbe an. Einst hat ein Künstler ihn an die Decke gemalt, jahrhundertelang hat sein Engel nun unter den Farbschichten geschlummert, sich versteckt, jetzt erst schaut er wieder hinunter. Was er wohl sieht? Den Restaurator, der – bewegt von seiner Entdeckung – sein Werkzeug verstaut. Es ist Feierabend. Der halbe Engel ist genug. Später würde er weiterarbeiten. In einigen Wochen. Erst muss beraten werden, ob der Engel und mit ihm das Gewölbe freigelegt werden soll oder nicht. Er geht.
Wochen, nein, Monate ist dann der halbe Engel sehen. Es sieht aus, als sei links von ihm ein Vorhang, als schaue der Engel hinter einem Vorhang hervor. Der Engel strahlt viel Ruhe aus. Die Hände sind ineinandergelegt, ganz entspannt. Er schaut hinunter und sieht die Frau, die eben zur Mittagszeit in die Kirche kommt, ihre Einkaufstasche abstellt und für einen Moment die Augen schließt. Den Küster sieht er, der die Blumen für den Gottesdienst auf den Altar stellt. Ein Kind wird getauft, ein Brautpaar sagt Ja – der Engel schaut zu. Und es scheint, als schaue er immer nur für einen Moment hinter seinem Vorhang hervor, um gleich darauf wieder zu verschwinden...
Der halbe Engel. Eine Hälfte zu sehen, die andere Hälfte noch verborgen hinter der Kalkfarbe. Wie in den Geschichten der Bibel. Wo Engel entdeckt werden und sich gleich wieder verbergen. Als Jesus kurz vor der Feier des Abendmahls im Garten Gethsemane um sein Leben ringt, wird er von einem Engel gestärkt. Und was wäre die Ostergeschichte ohne den Engel am leeren Grab? Flüchtig sind sie und nicht greifbar. Nur von wenigen gesehen, kaum bezeugt, und doch nicht wegzudenken aus den Glaubensgeschichten.
In der Stadtkirche in Königslutter ist inzwischen der ganze Engel freigelegt. Das schöne Gewölbe zeigt noch weitere Engeldarstellungen mit Heiligenschein und prächtigen Flügeln. Ich trauere aber dem halben Engel noch hinterher. Mir war er näher. Denn Engel sind doch geheimnisvoll. Das Rätsel der Engel kann niemand lösen. Ich kann sie nicht sehen oder erklären. Ich kann ihre Existenz auch nicht beweisen. Aber ich glaube fest: Wenn es mir schlecht geht, wenn ich am Ende bin, kann ich mich darauf verlassen, dass Gott da ist. Wahrscheinlich, wer weiß, sind Engel nur ein Symbol für Gottes Nähe. Manchmal zeigt sich Gott, manchmal verbirgt er sich auch – so wie der halbe Engel, der Engel hinter dem Vorhang im Gewölbe der Stadtkirche in Königslutter.