In einer verlassenen Kapelle in Frankreich stößt unser Autor Jan von Lingen auf eine Lebensregel, die ihren Weg um die Welt gemacht hat.
Sendung zum Nachlesen
Der Weg aus der Schlucht der Ardèche in Frankreich führt steil bergauf. Links und rechts stehen einige Häuser, manche sind verlassen. Eichentüren hängen schief in den Angeln. Pflanzen klammern sich an Mauerfugen. Ein verrostetes Fahrrad lehnt mit platten Reifen an einer Häuserwand. Ein schwer zugängliches, fast verlassenes, vergessenes Dorf, so scheint es meiner Frau und mir – bis wir nach einer Wegbiegung auf eine Kapelle zugehen. Die Tür steht offen - und schon sind wir in einem kühlen, schattigen Raum. Dort liegen laminierte Texte aus – gleich in mehreren Sprachen. Wir nehmen Platz und lesen – einen ungewöhnlichen Text:
"Gehen Sie leise zwischen Lärm und Eile und erinnern Sie sich an den Frieden, der in der Stille existieren kann. Lebe ohne Entfremdung, so gut es geht, mit anderen zusammen. Vermeiden Sie laute und aggressive Personen, sie sind ein Ärgernis für den Geist."
So lesen wir im ersten der fünf Absätze. Eine Übersetzung in ungelenkem Deutsch, mal werden wir vertraulich mit "Du", mal höflich mit "Sie" angeredet. Aber immer geht es um Lebensweisheiten, gefolgt von geschäftlichen Ratschlägen wie: "Sei immer an deiner Karriere interessiert, wie bescheiden sie auch sein mag." Ein Füllhorn an Lebensregeln.
Spätestens jetzt stoßen wir auf den Vermerk am Ende des Textes: "Gefunden in einer alten Kirche in Baltimore im Jahre 1692, unbekannter Autor." Wir staunen: gefunden vor weit mehr als 300 Jahren? Und wie kommt der Text eines unbekannten Autors von Baltimore – wohl in den USA – in eine aufgegebene Kapelle nach Frankreich? Noch dazu in mehreren Sprachen?
Ein paar Stunden später sind wir schlauer. Nach der Recherche im Internet erfahren wir die Geschichte jener "Lebensregel von Baltimore". Pfiffige Autoren sind den verschlungenen Pfaden der Vergangenheit gefolgt und stießen auf einen deutschstämmigen Anwalt namens Max Ehrmann im US-Staat Indiana. Dieser verfasste den Text im Jahr 1927 als Prosagedicht und versandte seine "Desiderata" – so nannte er seine Lebensregeln, wörtlich übersetzt vielleicht "das Ersehnte" - als Weihnachtsgrüße an seine Freunde.
Erstaunlich, was dann geschah. Seine Lebensregeln wurden abgeschrieben und verteilt, gedruckt und in alle Winde verstreut. Und sie erreichten auch einen Pfarrer in Baltimore, der den Text in seiner Kirche auslegte und im Kirchbrief veröffentlichte. Dort notierte er am Ende: "St. Pauls-Kirche, 1692" – denn seine Kirche stammte aus genau diesem Jahr, aber nicht der Text. Die Broschüre, die wir in Händen halten, machte daraus: "Gefunden in einer alten Kirche in Baltimore im Jahre 1692 – Autor unbekannt." Aber so steht es nicht nur in jener Kapelle in Frankreich. So steht es fast überall, das Missverständnis kursiert weltweit.
Der Nimbus des Alten und Geheimnisvollen umschwebt seitdem die "Desiderata". Amerikanische Politiker gaben den Lebensregeln die nötige Publicity. Hippies nahmen sie zum Vorbild. Künstler sprachen die Worte auf Schallplatten. Schulchöre sangen "Geh deinen Weg ohne Eile und Hast" und Kirchbesucher wie meine Frau und ich lesen die Worte: "Suche, den Frieden in dir selbst zu finden, und wenn es dir möglich ist, versuche den anderen zu verstehen."
Nicht herausgefunden haben wir, wer eigentlich die laminierten und damit wetterbeständigen Texte in jene verlassene Kapelle gelegt hat und das gleich in mehreren Sprachen. Eines aber weiß ich bestimmt: Es war jemand, der es ernst gemeint hat. Er wollte die Desiderata an Wanderer wie uns weitergeben. Vielleicht weil ihn dieser Gedanke berührt hat:
"Bei allem Verrat, trotz mühsamer Aufgaben und zerbrochener Träume ist die Welt immer noch schön. Pass auf dich auf. Versuche, glücklich zu sein."
Es gilt das gesprochene Wort.
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