Woher kommt Lebensfreude, wenn man chronisch krank ist?
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Eigentlich wollte ich in unserer Bäckerei nur Kuchen holen, als die Frau des Bäckers hinter der Theke hervorkommt und mir eine Broschüre in die Hand drückt. "Hallo, Herr von Lingen, ich dachte, Sie können damit vielleicht etwas anfangen. Habe ich beim Aufräumen auf dem Dachboden gefunden."
In der Hand halte ich nun eine Broschüre. Etwas muffig riecht das Papier, vielleicht 50 Jahre alt. Das Titelblatt ist mit knallbunten Blumen verziert: die Prilblumen aus den 70ern. Darauf steht der Titel "Gib fröhliche Gedanken". Und der Name der Autorin: Hedi von Lingen. "Ach, das hat meine Tante geschrieben, vielen Dank", antworte ich. Und in meinem Kopf rattert der Film los.
Meine Tante Hedi. 1930 geboren. Pfarrerstochter in Ostpreußen. Unter vielen Geschwistern ist sie aufgewachsen und hat die Mutter früh verloren. Über Flucht und Vertreibung der Familie schreibt sie als 15-Jährige mit sauberer Handschrift. So dokumentiert sie Familiengeschichte – auch wie die Familie in Niedersachsen eine neue Heimat findet.
Als ein Carepaket aus den USA kommt, gibt es große Freude unter den Kindern, eine Lehrerin hat das Paket geschickt. Nun wird Hedi ausgewählt. Sie darf den Dankbrief schreiben - wegen ihrer guten Handschrift, aber auch weil sich das Mädchen so gut ausdrücken kann.
Daraus entstehen zunächst eine Brieffreundschaft und danach eine Lebensfreundschaft zwischen der Lehrerin in Amerika und dem Flüchtlingskind aus Ostpreußen. Hedi ist in Deutschland Kindergärtnerin, als sie erstmals ihre Brieffreundin in den USA besucht. Dort sieht sie das Leid der Kinder in den Slums von Philadelphia. Das ehemalige Flüchtlingskind aus Ostpreußen beschließt, in die Neue Welt auszuwandern und dort zu helfen.
In den USA angekommen, lebt sie bei der Lehrerin, ihrer Freundin, und baut eine Einrichtung für Kinder auf. Als Dank erhält sie ein Stipendium - sie darf studieren und macht ihren Magister. Doch schon die Prüfung ist überschattet von einer schweren Krankheit. Aufgrund eines Rückenleidens hält sie ihr Examen im Liegen ab. Eine Operation soll helfen, doch sie misslingt, das Leid wird noch größer. Ihren Beruf – für den sie so viel gegeben hat - wird sie nicht ausüben können, sagt der Arzt. So bleibt sie ein Leben lang krank und pflegebedürftig.
Das Einzige, was ihr bleibt, ist Schreiben. Wie diese kleine Broschüre mit dem Titel "Gib fröhliche Gedanken". "Eine Kranke schreibt für Kranke", heißt es darin. Und bewegende Zeilen lese ich: "Zuerst will ich Brücken und Kirchen bauen, die Wüste berieseln und Fluten stauen. Nun erkenn ich mit tränenfeuchtem Gesicht: Ich wollte zu viel. Ich kann es nicht. Muss warten, liegen, leiden, langsam lern ich, mich zu bescheiden."
Eine Kranke schreibt für Kranke. Die Autorin, meine Tante Hedi starb 1989. Aber ihre Texte sind bis heute authentisch, echt und lebenserfahren, ja, sie wollen trösten. So heißt es am Ende eines Gedichts: "Nun darf ich, verwundet, heilen, lerne Geduld im Verweilen. Kein Weg, kein Dunkel ist ohne Sinn, wenn ich in Gott geborgen bin. Mein Schmerz zwingt mich auf ihn zu schauen. Langsam lerne ich vertrauen."
Ich habe seitdem viel über meine Tante Hedi, ihre Krankheit und ihren Glauben nachgedacht. Die knallig-bunten Prilblumen der 70er Jahre auf dem Cover ihrer Broschüre sind längst aus der Mode gekommen. Aber wie steht es mit ihrem Glauben, der sich in ihren Texten verbirgt?
Die Autorin Hedi von Lingen hat für sich und für andere in ihren Worten einen Faden zum Himmel gespannt. Ihre Gedanken waren jemandem Wert genug, diese ein halbes Jahrhundert aufzubewahren. Und sie hat ihren Leserinnen und Lesern vor mehr als 50 Jahren erzählt, was ihr hilft, auch ganz praktisch: Freundliche Pflege, helfende Medizin und – Freude, so schreibt sie. Doch woher Freude nehmen in schwerer Krankheit? Sie notiert: "Weil ich sie im Augenblick nicht aus mir selbst gewinnen kann, beginne ich, Gott darum zu bitten. Und ich werde nicht aufhören, an jedem Tag meines Krankseins zu beten: ‚Gib fröhliche Gedanken!‘"
Es gilt das gesprochene Wort.
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