Auf dem Weg in die Stadt

Nikolaikirche Löbau

Holger Treutmann

Auf dem Weg in die Stadt
Rundfunkgottesdienst aus der St. Nikolaikirche in Löbau
28.03.2021 - 10:05
23.03.2021
Superintendentin Antje Pech
Über die Sendung

 

 

 

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Predigt zum Nachlesen
 

Mitnehmen auf eine Städtereise möchte ich Sie heute.
Eine Station ist Jerusalem. 
Halt machen wir in sechs relativ nahe beieinander liegenden Städten in der Oberlausitz.
Halt machen wir auch in den Orten, in denen wir leben.
Und wir reisen zu einer gleicherweise fernen und nahen Stadt: zur bleibenden Stadt Gottes.

Menschen auf dem Weg in die Stadt : Station 1
ist jedoch weder Jerusalem noch Görlitz. 
Auch nicht Zittau oder Kamenz.
Wir schauen nach Wien.

„Als der Zug schließlich mit nur zweistündiger Verspätung in den Wiener Westbahnhof einge-fahren war und Franz aus der Bahnhofshalle ins grelle Mittagslicht hinaustrat … wurde ihm ein bisschen schlecht und er musste sich am nächsten Gaslaternenmast festhalten. … Es war über-wältigend. Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. Alles war in ununterbro-chener Bewegung, selbst die Mauern und die Straßen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich. … Ein unaufhörliches Brausen lag in der Luft, ein unfassbares Durcheinander von Tönen, Klängen und Rhythmen, die sich ablösten, ineinanderflossen, sich gegenseitig übertönten“ 

Franz kommt im Wien der dreißiger Jahre an. Voller Hoffnungen. Voller Träume. 
17 Jahre auf dem Dorf – jetzt lockt die Stadt. 
Und er gehorcht wirtschaftlicher Notwendigkeit. Der Gemüsetopf auf Mutters Herd macht nicht länger satt.

Robert Seethaler erzählt in seinem Buch „Der Trafikant“ von einem jungen Menschen, der aus-zog, das Leben zu finden. 
Was er mitnimmt auf die Reise: Das Bild der Mutter, die ihm hinterherwinkt, ihr Kuss auf sei-ner Stirn und belegte Brote. 

Dann sendet er ihr jede Woche eine Postkarte – immer mit Blumenmotiven, die sie liebt. 
Und jede Woche schickt die Mutter ihm eine Postkarte – immer mit der Ansicht des Sees vor dem Elternhaus, den Franz liebt.
Die räumliche Entfernung ist groß. Die Postkarten aber halten Mutter und Sohn zusammen. 

Hoffnungen und Träume – In diesem Wien der dreißiger Jahre bleiben sie nur zu schnell auf der Strecke. Der, der auszog, das Leben zu finden, wird zu einem, der das Fürchten lernen muss. 

Was nicht auf der Strecke bleibt, und davon erzählt Seethaler viel mit Wärme:
das Einstehen füreinander
das Benennen von Unrecht
das Mitfühlen und Mitleiden – also die ganz normale Menschlichkeit
und die Weite des Sees, die belegten Brote der Mutter und ihr Kuss auf Franzens Stirn

Aus der Frage „Wie werden Träume wahr?“ wird im Buch die Frage „Wie bewahre ich Mensch-lichkeit?“

Eine Antwort, die ich höre: Durch die Erinnerung an See und Kuss und Mutters Brote – und eben die vielen Postkarten.
Vergangenes ist nicht vergangen. Und das, was sein wird, war schon immer da. 


Menschen auf dem Weg in die Stadt: Station 2 
sind die Städte und Dörfer, in denen Sie und ich zu Hause sind. 
Nicht nur ein 17-jähriger Franz will wissen, wie Träume wahr werden und Menschlichkeit bleibt.

Vor einem Jahr begann der erste Lock-Down. 
Viele haben zum ersten Mal leere Regale in den Geschäften erlebt. Und wir haben erfahren, was die Verknappung von Ressourcen mit uns macht: Der Streit um Masken und Impftermine, die Diskussion über Entscheidungen und darüber, wer sie treffen darf. 

Inzwischen sind nicht mehr die Regale, sondern die Städte leer. 
Kein unaufhörliches Brausen liegt in der Luft, kein Durcheinander und Ineinander von Tönen, Klängen und Rhythmen. 
Keine geöffneten Cafés. 
Auch kein Plausch in der Frühlingssonne.

Was sind Perspektiven für unser Land? 
Wie steht es um die Sicherheit?
Und wie ist es mit meiner Arbeit? Werde ich wirtschaftlich überleben? 
Und ja, wie geht das in dieser stagnierenden, zähen Zeit mit den Alten - und mit den Jungen?

Antworten zu finden, ist gar nicht leicht.
Vielleicht halten wir Ausschau nach unseren Erinnerungen: nach See und Kuss und Mutters Bro-ten.
Welche Postkarten haben wir geschrieben? 
Welche haben wir bekommen? 
Der Predigttext aus dem Hebräerbrief ist solch eine Postkarte an uns.
1Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.
8Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, an einen Ort zu ziehen, den er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. (Hebr 11,1.8)

Berichtet wird hier von einer inneren Bewegung. Etwas macht Abraham das Zuhören und das Umsetzen des Gehörten möglich.
Weil er auf seinem Lebensweg einen verlässlichen Gott erlebt hat, kann er mit ihm ins Unbe-kannte aufbrechen.
Also auch hier: See und Kuss auf die Stirn, belegte Brote und Postkarten.
Nicht von der Mutter, sondern von Gott.

Wo war der Kuss Gottes auf unserer Stirn? Wo hat Gott uns belegte Brote als Proviant mitge-geben, die uns jetzt Wegzehrung sein können? 
Wo hat Gott alles wieder gut gemacht? 
Zu diesem Kramen in den Lebensjahren will uns der Hebräerbrief bringen.

Ein Mensch auf dem Weg in die Stadt - Station 3: 
Wir kommen nach Jerusalem.

Lesung Joh 12, 12-19

Wir sind noch immer in Jerusalem.
Jesus reitet in die Stadt. Die Menschen jubeln. Der König ist da! Warum reitet er auf einem Esel? 
In den Menschenreihen beginnt das Tuscheln.
Ankommen in einer Stadt weckt Erwartungen bei denen, die dort wohnen. Passt der Neue zu uns? Wird er Schwierigkeiten machen? Oder bringt er neuen Schwung?

Auch der, der kommt, erwartet: sicheres Wohnen, Akzeptanz, Mit-Menschlichkeit.
Jesus findet wenig davon. 
Warum also diese Stadt? 
Weil das, was begonnen wurde, auch zu Ende geführt werden soll.

Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, 
2und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. (Hebr 12,2)
Laufen mit Geduld – auch dann, wenn es schwer wird.
Und auch hier helfen: See und Kuss auf die Stirn, belegte Brote und Postkarten.
Dann braucht man als König kein Pferd. 

Menschen auf dem Weg in die Stadt - Station 4 
erreichen wir heute nicht. Wir warten, so wie Abraham, auf die Stadt Gottes, in der der Bo-den nicht schwankt, in der die Verheißungen erfüllt und Sicherheit und Menschlichkeit sind. 
9 Durch den Glauben ist Abraham ein Fremdling gewesen im Land der Verheißung wie in ei-nem fremden Land und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verhei-ßung. 
10 Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. (Hebr 11,9f.)

Sechs Städte in der Oberlausitz gründeten ein Schutz- und Trutzbündnis. Sie lagen an der Kö-nigsstraße, der via regia. Sicherheit und Wohlstand strebten sie an. Das Streben führte zum Erfolg. Die Region blühte auf. Doch das blieb nicht so.
Trotz der Schönheit von Städten und Landschaft sind die Strukturen seit langem instabil. Ge-lassenheit, Freude, Freundlichkeit – das, was fester Grund ermöglicht – fehlen.
Es ist halt doch mehr Trutz statt Schutz.

Die Oberlausitz bildet da wohl keine Ausnahme in unserem Land.
Und auch ich habe gern ein festes Dach und einen sicheren Boden im Heute und Hier.

Der Bibeltext verweist auf andere Festigkeit, auf andere Sicherheit.
Unser Glauben kann ermöglichen, dass wir in Zelten unterwegs sind.
Die Glaubenserfahrungen – das sind See und Kuss auf die Stirn, belegte Brote und Postkarten. Schätze der Vergangenheit.
Die Glaubenshoffnung – 
das ist die Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.
Schatzkarte für die Zukunft.
Rituale – wie die der Mutter – geben der Hoffnung konkrete Gestalt

Professorin Kerstin Lammer, leitende Pastorin des Hauptbereichs Seelsorge und gesellschaftli-cher Dialog in der Nordkirche, schreibt: „Das Ritual bindet in eine Schicksalsgemeinschaft ein; es bietet Teilhabe und Identifikation mit anderen an … Das religiöse Ritual verweist darüber hinaus auf die Transzendenz, auf … die Ganzheit des Lebens, im Unheilen das Heil, im Sterben die Teilhabe am ewigen Leben.“ 
See und Kuss auf die Stirn, belegte Brote und Postkarten – Rituale, die uns alle durch alle Zei-ten hindurchführen.

Und die Stadt, deren Baumeister Gott ist – Vielleicht sieht sie ja ein bisschen so aus, wie sie Seethaler beschreibt:
Die Stadt brodelt wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. Alles ist in ununterbrochener Bewe-gung, selbst die Mauern und die Straßen scheinen zu leben, atmen, wölben sich. … Ein unauf-hörliches Brausen liegt in der Luft, ein unfassbares Durcheinander von Tönen, Klängen und Rhythmen.
Und vor Cafés stehen die Stühle und Tische auf dem Gehweg.
Die Menschen sitzen in der Sonne, reden und lachen.
Und auch hier belegte Brote und Kuss.
 

Es gilt das gesprochene Wort.
 

23.03.2021
Superintendentin Antje Pech