Dr. Janis Barzins
Dem Himmel so nah
aus der St.- Andreas-Kirche in Hildesheim
29.06.2025 10:05

Der Deutschlandfunk überträgt am 2. Sonntag nach Trinitatis (29.6.) um 10.05 Uhr einen Gottesdienst aus der evangelischen St.-Andreas-Kirche in Hildesheim. Das Thema lautet "Dem Himmel so nah". Janis Berzins, Pastor an der Andreaskirche, predigt.

Musikalisch gestaltet wird der Gottesdienst von der St.-Andreas-Kantorei unter der Leitung von Kantor Bernhard Römer. Er wird auch die große Beckerath-Orgel der Andreaskirche spielen. Einen weiteren Part als Begleiterin an der Orgel übernimmt Katariina Lukaczewski. im Rundfunkgottesdienst.

Die St. Andreas-Kirche Hildesheim hat mit 114,5 Metern den höchsten Kirchturm Niedersachsens. Der Aufstieg gehört zu den touristischen Attraktionen Hildesheims. Der Blick von oben reicht über die ganze Stadt bis weit ins Land hinein. Man ist auf dem Turm dem Himmel ein Stück näher. Darüber denkt Janis Berzins in seiner Predigt nach.

Die Hildesheimer St.-Andreas-Kirche in ihrer heutigen Form geht auf das Jahr 1389 zurück. Die mächtige Turmanlage ist im Jahr 1503 begonnen worden, konnte jedoch erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt werden.
 

Lieder des Gottesdienstes:
1. EG 504, Strophen 1 bis 4: Himmel, Erde, Luft und Meer
2. EG 277, Refrain des Kehrverses: Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist
3. EG 179, Strophe 1: Gloria - Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank
4. EG 514, Strophen 1 und 2, 4 und 7: Gottes Geschöpfe, kommt zuhauf
5. EG 575, Du bist, Herr, mein Licht und meine Freiheit
6. EG 178, Strophe 10: Fürbitten mit Liedruf
7. EG 331, Strophen 1, 2, 3, 11: Großer Gott, wir loben Dich 

 

Predigt nachlesen:


Der Weg nach oben

364 Stufen sind es bis hinauf zur Aussichtsebene des Turms unserer Andreas-Kirche in Hildesheim. Die ersten 130 Stufen sind die anstrengendsten. Es geht eine enge Wendeltreppe hinauf, tief im Innern der meterdicken Mauern des Turmquaders. Die Stufen etwas höher als üblich. Das macht den Aufstieg anstrengend. Und es gibt hier keine Fenster, die Orientierung ermöglichen. Dieser Teil des Aufstiegs ist nichts für Menschen, die Schwierigkeiten haben mit engen Räumen. 

Und dann, nach etwa einem Drittel des Weges, tritt man plötzlich aus der engen Wendeltreppe in einen weiten, hellen Saal. Die erste Überraschung des Aufstieges. An drei Seiten kann man hinausschauen. Durch die hohen gotischen Fenster mit ihrer Bleiverglasung reicht der Blick über die Dächer der Stadt bis zu den bewaldeten Hügelketten, die die Stadt umgeben, und weit ins Land hinein. Ein Moment, um kurz zu verschnaufen, wieder zu Atem zu kommen. 

Weiter geht es jetzt auf einer modernen Stahltreppe, weiter in die Höhe. Bald wird es wieder dunkler. Die Fensteröffnungen auf dieser Ebene sind mit hölzernen Lamellen verschlossen, die den Wind durchlassen. Ein sanfter Luftzug berührt die verschwitzte Haut. Der Weg führt vorbei an den großen Glocken, die im Halbdunkel zu erkennen sind. Mehr als 2 Meter Durchmesser hat die größte der Glocken, sie wiegt 6 ½ Tonnen und damit mehr als die größten SUVs. Mit etwas Glück erlebt man den mächtigen Halbstundenschlag hier im Turm mit. Das vibrierende Metall aus der Nähe zu erleben, das spürt man im ganzen Körper. 

Weiter geht der Weg hinauf, nun verschlungener, ein Pfad durch den Dschungel, den das Gebälk hier bildet. Am Geländer steht ein altes Uhrwerk, das nicht mehr in Betrieb ist. Näher kommen die schräg stehenden Dachflächen hinter der tragenden Stahlkonstruktion, es wird langsam wieder heller. Wir sind schon im oberen Teil, in der runden Spitze des Turms. Nur wenige Stufen noch, dann ist die Aussichtsebene erreicht. 

Auf allen Seiten öffnen sich die Fenster, der Blick hinunter in die Stadt, auf Dächer, Türme, Straßen. Menschen, Autos, Lastwagen: Alles klein wie Spielzeug. Und der Blick in die Ferne, mit den Dörfern und Städten der Umgebung. Wälder und Felder. 

Aber auch die technischen Errungenschaften, Windräder und Starkstromleitungen, Fabriken und Schornsteine. In alle Himmelsrichtungen geht der Blick: Nach Norden, nach Süden, Osten und Westen. Und über allem: Der Himmel, blau und weit.


II
Distanz zum Alltag

Es ist eine ganz eigene, kleine Reise, die wir miteinander unternommen haben – der Aufstieg in Gedanken auf den Turm der Andreas-Kirche. Eine Reise, die nicht in die Ferne, sondern in die Höhe führt. Eine Reise, um Gott näher zu kommen? Zumindest dem Himmel ist man dort oben ein Stück näher, im wahrsten Sinne des Wortes. Und der Himmel ist ja nicht zufällig in unserer religiösen Symbolik der Ort, den wir Gott zuschreiben. 

Mir geht es beim Aufstieg auf den Turm so: Mit jeder Treppenstufe gewinne ich Abstand. Abstand zwischen mir und dem Alltag. Das ist ja das, was mit jeder Reise geschieht, auf die wir uns begeben. Wir lassen unseren Alltag hinter uns: Die Orte, in denen wir leben. Die Menschen, mit denen wir leben. Unsere Arbeit. Unseren Haushalt. Die gewohnten Wege und Routinen. Wir lassen das Gewohnte und Vertraute eine Zeit lang zurück, um Neues zu sehen und zu erleben. Andere Perspektiven, unbekannte Menschen. Und wir stellen fest, dass manche Dinge an anderen Orten ganz anders sind, als wir es gewohnt sind. Dass Dinge anders aussehen, anders riechen, anders schmecken. Dass Menschen ganz anders reden, sich mitunter auch anders verhalten. Und unsere Selbstverständlichkeiten gar nicht mehr so selbstverständlich sind.

Mir geht das so, wenn ich auf den Turm der St. Andreas-Kirche hinaufsteige. Für eine kurze Zeit lasse ich den Alltag hinter mir. Und damit für einen Moment auch die Ängste und Sorgen. Viele haben sicher den Liedermacher Reinhard Mey im Ohr: "Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …" "Und alles, was uns groß und wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein." Ja, von hier oben betrachtet wirkt manches nicht mehr so bedrohlich, was unten kaum zu bewältigen erschien.

Zugleich gewinne ich Übersicht. Ich schaue in die unterschiedlichen Richtungen. Nach Norden, nach Süden, Osten und Westen. Ich sehe die Wege, die ich gerade noch gegangen bin. Gleich da unten der Marktplatz, dort der Dom mit der berühmten Hildesheimer Rose, und am Ende der Fußgängerzone der Bahnhof. 

Ich verschaffe mir Orientierung: Gleich um die Ecke St. Michaelis, Weltkulturerbe. Aus der Höhe scheint alles viel dichter beieinander zu liegen als aus der Sicht des Fußgängers, der sich seinen Weg zwischen den Häuserzeilen suchen muss, wo das Ziel erst spät und oft ganz unvermittelt in den Blick kommt. Manchmal erst, wenn man schon direkt davor steht.

Ich denke, dass sich die Erfahrung des Blicks von oben auch auf unser Leben beziehen lässt. Ein wenig Abstand zum Alltag tut gut. Und der Blick aufs Leben aus einer gewissen Distanz ist hilfreich. Wo war ich in letzter Zeit unterwegs? Welche Gedanken haben mich beschäftigt? Welche Sorgen haben mich umgetrieben? Auch: Was ist zu kurz gekommen in letzter Zeit? Was schiebe ich schon lange vor mir her? Eine Standortbestimmung. 

So ähnlich wird es Mose ergangen sein, so stelle ich es mir jedenfalls vor. Von ihm haben wir in der Lesung gehört. 40 Jahre lang ist Mose mit seinem Volk durch die Wüste gewandert. Nun sind sie kurz vor dem Ziel, dem Gelobten Land. Mose steigt auf einen Berg. Er sieht von dort oben den Weg, den er und sein Volk bis hierher gegangen waren. Und er erinnerte sich an alles, was sie auf diesem Weg gemeinsam erlebt haben. Er und sein Volk – und ihr Gott. Freud und Leid, Not und Glück. Mancher Umweg wird von oben sichtbar, den sie gelaufen sind, manches Tal, das sich als Sackgasse erwies. Und ein Ziel wird sichtbar, eine Verheißung. Erkennbar am Horizont. Aber Mose selbst wird dieses Ziel nicht erreichen. Sein Volk unter einem neuen Anführer schon. 

Was sind meine Ziele? Die nahen und die fernen? Was könnte erreichbar sein und was bleibt für mich unerreichbar in diesem Leben? Und treibt mich dennoch an und gibt mir Kraft? Was ist mir eigentlich wichtig und leitet mich in meinem Leben? Und was wird immer wieder überdeckt von den Problemen und Schwierigkeiten des Alltags, seinen kleinen Nickeligkeiten und Tücken?

Mir scheint: Oben auf dem Turm, mit der weiten Sicht ins Land und aufs Leben, sind wir nicht nur dem Himmel ein Stück näher. Mit der Distanz zum Alltag kommen wir den großen Fragen näher. Und damit, so bin ich überzeugt, kommen wir Gott ein Stück näher. Nicht erst, wenn wir Antworten finden, sondern gerade in unseren Fragen.


III
Die Welt als Gleichnis: Gott ist für die Menschen da

Ich komme nicht so oft dazu, auf den Turm unserer Andreas-Kirche in Hildesheim zu steigen. Deshalb ist es jedes Mal eine kleine Überraschung: 

Ah, da geht es lang! So sieht es hier aus! Eine Auszeit vom Alltag. Für andere ist dieser Platz dort oben vertrauter Lebensraum. Wenn ich auf der Aussichtsebene stehe und nach oben schaue, dann blicke ich in die Dunkelheit der Kirchturmspitze. Wenn man es nicht weiß, kann man es kaum erahnen. Dort oben befindet sich ein Nistkasten für Wanderfalken. Der Naturschutzbund Hildesheim, kurz NABU, betreut diesen Nistkasten. Und eine Webcam liefert einen Livestream ins Internet, so dass man jederzeit mitverfolgen kann, was dort passiert. Die Wanderfalken sind unsere heimlichen Stars. Die meisten Aufrufe unserer Webseite gelten den Bildern dieses Livestreams. Unsere Falken haben viele Fans.

Zurzeit ist der Nistkasten meistens leer. Es ist erst wenige Wochen her, dass die vier Jungvögel ausgeflogen sind. Und es war faszinierend zu beobachten, wie die Falken-Eltern die Eier ausgebrütet haben und wie dann ein Jungtier nach dem anderen geschlüpft ist. Das war im April. Zunächst hielten die Elterntiere zum Schutz ihre Flügel ausgebreitet über die Jungen. Sie haben sie gewärmt und gefüttert, ihnen alle Fürsorge gegeben, die sie brauchen. Auf den Bildern der Webkamera immer gut zu erkennen: Das Einflugloch, nur wenige Zentimeter entfernt von den frisch geschlüpften Falkenbabys. An Federn und Fasern sieht man, dass es mitunter ganz schön windig ist. Und auch zu erkennen: Häuser und Straßen, tief unten, ein schwindelerregender Abgrund. Es hat nur wenige Wochen gedauert, bis die Jungtiere anfingen, ihre Flügel zu trainieren. Und dann sind sie auch bald losgeflogen. Alle haben es geschafft, auch dank der Fürsorge der Elterntiere.

Solche Einblicke ins Tierleben faszinieren. Das ist schon immer so gewesen, auch wenn frühere Generationen noch keine Webcams hatten. Der Mensch ist Teil einer Schöpfung, die größer ist als er selbst. Und die Schöpfung wird zum Fingerzeig auf ihren Schöpfer. So beschreibt das der Psalm, den wir am Anfang des Gottesdienstes gesprochen haben. Himmel und Erde verweisen auf ihren Schöpfer. Auch Menschen und Tiere kommen in den Blick. 

Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe. Herr, du hilfst Menschen und Tieren. 

Die ganze Schöpfung beschreibt dieser Psalm aus der Bibel als einen Ort, an dem wir Gott auf die Spur kommen können. Eben nicht nur der Himmel, sondern Himmel und Erde sind Schauplätze, an denen Gott am Werk ist.
Und weiter stellt der Psalm fest: 

Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! 

Schon vor tausenden von Jahren haben Menschen beobachtet, wie Tiere ihre Flügel ausbreiten zum Schutz ihrer Jungen. Und schon damals hat das Bild Menschen so angerührt, dass sie es zum Gleichnis nahmen: So, genau so ist Gott. Mit der gleichen Zuneigung und Fürsorge, die sich bei den Tieren in der Aufzucht ihrer Jungen zeigt, kümmert sich Gott um die Menschen, die unter dem weiten Blau des Himmels leben. Um jeden einzelnen und jede einzelne von uns. Und es ist meine feste Überzeugung, dass sie recht hatten mit dieser Beschreibung. Dass es genau so ist. Gott, unter dem Schatten deiner Flügel haben wir Menschenkinder Zuflucht.


IV
Zum Christentum gehören Kirchentürme. Eigentlich erstaunlich. Denn die Bibel enthält ja mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel eine Mahnung. Die Menschen wollten einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reichen sollte. Und warum sollte das geschehen? "Dass wir uns einen Namen machen", so die Erzählung in der Bibel. Und Gott machte deutlich, was er davon hielt, nämlich gar nichts. 

Dass Christinnen und Christen dennoch Kirchtürme bauten, hat vermutlich mehrere Gründe. Schon früh hat man Türme errichtet, um dort Glocken aufzuhängen. Je höher die Glocke hing, desto weiter war ihr Schall zu hören. In späterer Zeit waren Türme auch als Wehrtürme Bestandteil von Wehrkirchen. Sie boten Schutz, wenn Feinde vorbeizogen. In den Städten waren die Kirchtürme früher zumeist von einem Türmer bewohnt. Er hatte die Aufgabe, von seinem erhöhten Posten aus Ausschau zu halten, ob irgendwo in der Stadt ein Feuer ausbrach. Und wenn er ein Feuer entdeckte, hatte er unverzüglich die Feuerglocke zu läuten, um die Stadtbevölkerung zu warnen. Und schließlich wurden Kirchtürme sicher auch gebaut, um die eigene Macht zu zeigen. Die Geschichte vom Turmbau hat man in diesen Fällen wahrscheinlich nicht so genau gelesen.

Der Kirchturm von St. Andreas ist mit seinen 114,5 Metern auch noch gar nicht so lange der höchste Kirchturm Niedersachsens. Der Turm endete über mehrere Jahrhunderte auf 44 Metern. Er war nie fertig geworden. Erst im Jahr 1883 begann man, den Turm zur heutigen Größe aufzubauen. Wenige Jahre zuvor hatte man den Kölner Dom vollendet, der auch Jahrhunderte lang nicht fertig geworden war. Was Köln konnte, konnte Hildesheim auch. Ob nun zuerst zur Verherrlichung Gottes oder doch, "um sich einen Namen zu machen", lässt sich im Nachhinein schwer unterscheiden. 

Im Zweiten Weltkrieg wurde Hildesheim schwer zerstört. Auch die Andreaskirche und ihr Turm brannten aus. Nach dem Krieg war lange umstritten, ob man die Kirche wieder aufbauen sollte. Brauchte man dieses Gotteshaus? Könnte man den Platz nicht viel sinnvoller und ökonomischer nutzen? Oder sollte sie Mahnmal bleiben? 
Über viele Jahre war das verzogene Stahlgerippe, das wie ein Skelett auf dem ausgebrannten Turmquader stand, von fast überall in Hildesheim zu sehen. Man entschied sich für den Wiederaufbau. Und darum erinnert diese Kirche mitten in der Stadt auch heute die Hildesheimerinnen und Hildesheimer sowie ihre Gäste daran, dass Glaube Platz hat mitten in der Gesellschaft. Dass nicht alles im Leben nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten zu beurteilen ist. Darum weist die Spitze hoch hinaus in den Himmel – für mich ein wenig wie eine Art gut sichtbarer Wegweiser zu Gott. Und wer hinaufsteigt, der oder die ist – bei aller Anstrengung – dem Himmel bestimmt ein kleines Stück näher gekommen.

Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Weitere Informationen und Bilder zur Kirche unter:

Link zur Andreas-Kirchengemeinde in Hildesheim: www.andreaskirche.com
Link zur Andreas-Kantorei / Kirchenmusik: 
www.andreaskantorei.de
Link zur Buchungsebene für einen Turmbesuch der St. Andreas-Kirche: 
https://www.hildesheim-tourismus.de/poi/andreaskirchturm

 

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