Stadtkirche Bad Cannstatt
„Die Stimme des Blutes schreit von der Erde“
Gottesdienst-Live-Übertragung aus der Stadtkirche Stuttgart-Bad Cannstatt
14.08.2022 10:05
 
 
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Predigt zum Nachlesen
 
I

Die Geschichte der Menschheit beginnt mit einem Gewaltausbruch – so erzählt es die Bibel. Einem Gewaltausbruch zwischen zwei ungleichen Brüdern, Kain und Abel. Kain erschlägt seinen Bruder, und das Blut Abels schreit zum Himmel.
Zu Beginn also: der Kampf auf Leben und Tod. In diesem Kampf setzt Kain sich durch und überlebt.
Und – hat nicht der Recht, der überlebt? Friedfertig zu sein ist ja schön und gut – aber wozu, wenn man dabei unter die Räder kommt? Lernen wir das nicht seit biblischen Zeiten? Wer sich nicht wehrt, geht unter. Gehört Gewalt also zu unserer menschlichen Natur einfach dazu?
Denn den anderen Bruder fegt die Geschichte hinweg.. Ist er zu sanft, mangelt es ihm an Durchsetzungskraft?
Wir erfahren zumindest, dass das Sanfte, das Zerbrechliche und Bedrohte von Gott besonders angesehen wird.

Zwei ungleiche Brüder: wir hören ihre Geschichte.

Gen 4, 1-16
Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Abel ist tot, hinweggefegt wie ein Windhauch. Sein Bruder Kain überlebt: Zornig, von seiner Eifersucht getrieben schlägt er zu und verteidigt- ja was eigentlich? Seinen angegriffenen Stolz, sein Recht auf Anerkennung.
Und ich frage mich: Ist Kain ein Beispiel dafür, wie wir Menschen nun einmal sind? Bin auch ich so wie er?
Das lässt mich fragen: Wer bist Du Kain? Wer bist Du und wer sind wir, als deine Kinder und Kindeskinder?

 

 

II

Ich will Dich fragen: Kain – wer bist Du eigentlich? Du hast dich durchgesetzt, auch mit Gewalt. Dein Bruder Abel war schwach. Er ist untergegangen. Deshalb frage ich mich: Sind wir Menschen so wie du? Können wir nur überleben und uns durchsetzen, wenn wir auch bereit sind uns über das Schwache hinwegzusetzen? Ich frage mich, wie viel von Dir, Kain, in mir steckt. Wer also bist du?

Ich versuche Dich vor meinem inneren Auge zu sehen.
Du bist ein Mann des Feldes, Ackerbauer und was Du tust hat Bestand. Die Furchen die Du auf dem Acker ziehst trotzt Du dem Erdreich mit muskulösen Armen ab und was Du dort aussäst, davon willst du ernten. Du bist kräftig, Kain und vor allen Dingen setzt du dich durch. Und du bist es gewohnt, dass man Dich sieht, Dich und deiner Hände Werk.

Wovon ich nichts in der Bibel lese, das sind deine Gefühle. Und doch sind sie es, die du nicht zu beherrschen weißt.
Sie müssen überwältigend sein. Körperlich spürbar.

Du wirst nicht gesehen, Kain.

Dabei machst du auf dich aufmerksam. Du opferst Gott etwas von deiner Ernte. Du hast so viel Fleiß und Mühe hineingesteckt. Das muss Gott doch sehen. Du sehnst Dich nach Anerkennung. Aber Gott scheint das nicht zu kümmern. Das muss sich anfühlen wie ein Schlag ins Gesicht. Du siehst keine Möglichkeit einzufordern, dass Gott dich sieht.

Ich stelle mir vor: Es rauscht in deinen Ohren, dein Kopf wird zornesrot und der Kloß in deinem Hals lässt sich nicht herunterschlucken. Und du findest keine Worte für deinen Zorn. Was solltest Du auch sagen? Wie mit Gott rechten? Es ist so unendlich beschämend, nicht gesehen zu werden. Du senkst deinen Blick, dein Körper spannt sich, deine Fäuste sind geballt. Du willst nicht fühlen, was du fühlst. Du suchst einen Ausweg.

Es ist dieser Moment, in dem die Sünde vor der Tür lauert. Dieser Moment, in dem Du Dich selbst und deine Eifersucht ins Recht setzt. Dieser Moment, in dem dich nicht mehr beherrschen kannst, Kain. Dieser Moment, in dem du schuldig wirst an deinem eigenen Bruder.
Es scheint mir, als ob Du seine gesamte Existenz vernichten musst, nur damit Du nicht an deinen Gefühlen zugrunde gehst.

Seine Gefühle – die kann Kain nicht beherrschen. Wahrscheinlich gesteht er sie sich nicht einmal ein. Und sie überwältigen ihn. Er lässt sich hinreißen und erschlägt seinen Bruder und wird schuldig.
Gefühle können auch uns überwältigen, besonders solche, die es auszusprechen schwerfällt: Neid und Eifersucht, rasender Zorn. Wir kennen sie alle. In manchen Momenten als kleine Flamme – aber auch als loderndes Feuer.

Vielleicht, liebe Gemeinde, denken Sie jetzt: Ist das für uns überhaupt der Rede wert? Seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, das muss man als Kleinkind lernen. Das ist das Arbeitsgebiet von Erziehern und Pädagoginnen, die Kinder dabei begleiten, ihre Emotionen zu filtern und mit ihnen einen gesellschaftlich vertretbaren Umgang zu finden.
Ich denke: das müssen wir unser ganzes Leben lang lernen: unsere Gefühle ehrlich anzusehen, vor allem diejenigen, über denen wir vermeintlich drüberstehen. Vielleicht müssen wir auch wieder lernen, sie vor uns selbst und vor anderen zuzugeben, sie uns einzugestehen. Damit sie nicht außer Kontrolle geraten, uns gerade nicht überwältigen und bevor sie umschlagen in Taten und Worte.
Aus Neid sollte kein Hass werden. Aus der Angst, übersehen zu werden kein Überschreien unserer Mitmenschen. Aus einem Gefühl der Überforderung darf keine Grobheit mit kleinen Kindern oder alten Menschen werden. Und kein Mensch sollte aus Eifersucht einen anderen erschlagen.
Wenn wir Glück haben, erleben wir einen solchen Gewaltausbruch in unserem Miteinander und in unseren Beziehungen nicht: wenn wir Glück haben rutscht uns nicht im Affekt die Hand aus, verteilen wir keine Ohrfeige keine blauen Flecken.

Aber heutzutage gibt es ja noch eine andere Welt: die Virtuelle. Was ist mit Social Media? Facebook, Instagramm usw? Da herrscht eine Gewalt, die nicht mit Blutvergießen einhergeht, und trotzdem ihre Opfer fordert: Man kann sie im Sekundentakt über seinen Bildschirm flimmern sehen - : Hasskommentare, voll mit verbaler Gewalt. Und harmlos ist das nicht. Wenn man z.B. als Schülerin im Netz verspottet wird – und alle in der Schule können es live auf dem Smartphone mitlesen, dann kann die Schülerin im wahrsten Worte zerbrechen.
Jeder kann jeden beschimpfen und bedrohen. Und das alles auch noch anonym – Das Sprechen, vielmehr das Brüllen im Internet, die Anonymität wirkt dabei wir ein Brandbeschleuniger für Gewaltandrohungen und verbale Eskalation. Von sachlicher Diskussion kann keine Rede mehr sein.

Ein Beispiel für diese ungute Dynamik war die #metoo-Bewegung. Frauen und Mädchen haben sich unter dem Hashtag als Opfer sexualisierter Gewalt zu erkennen gaben. Ja, sie haben Betroffenheit ausgelöst und auch Mitgefühl erfahren. Wie viele – auch viele Männer - haben geantwortet mit einem „I hear you“ „Ich höre Dir zu“ ich nehme deine Erfahrungen ernst.

Aber wenn über Gewalt gegen Frauen gesprochen wird, dann scheint das bei vielen Menschen gerade noch größeren Zorn hervorzurufen, vielleicht auch Scham und eine Verunsicherung. Scham und Verunsicherung – Gefühle, die schwer zu kontrollieren sind. Und wie selten werden diese Gefühle ehrlich betrachtet oder sogar ausgesprochen. Stattdessen schlägt die Scham um in Gewalt, sprachliche Gewalt. Und so wurden Opfer der Gewalt auch wüst beschimpft, verunglimpft und selbst für Ihre Gewalterfahrung verantwortlich gemacht.

Wenn wir über Gewalt sprechen, müssen wir über negative Gefühle sprechen und tun gut daran, bei uns selbst zu beginnen. Ich glaube, das ist die bleibende Aufgabe, die wir als Nachfahren Kains haben: unsere Empfindungen zu prüfen und was unser Handeln leitet immer wieder ehrlich anzusehen.
„Prüfe mich Herr uns siehe wie ich es meine, und siehe ob ich auf bösem Wege bin.“ (Ps 139)
Wo, wenn nicht im Gebet, wo, wenn nicht vor Gott ist ein solcher Raum eröffnet?
Ein Raum in dem ich hinsehen und auch aussprechen kann, was ich fühle und nicht fühlen will. Wo ich nicht verstecken muss, nicht unter den Tisch kehren, wie hilflos ich bin, gegen die Wut, gegen mein Unverständnis gegen meine Überforderung.
Wo sein darf, was ist, was ich nicht einfach übergehen kann und auch nicht übergehen sollte.
Ich glaube es macht einen Unterschied, sich vor Gottes Blick so zu zeigen und auch sich selbst klar zu erkennen, mitsamt seinen verworrenen, vielleicht auch lächerlichen aber doch so menschlichen Empfindungen.

Kain schlägt diese Möglichkeit aus. „Warum senkst Du deinen Blick?“ fragt Gott, doch Kain kann sich seinem Schöpfer nicht zeigen, mit allem was zu ihm gehört.

 

 

III

Gefühle zu haben ist menschlich. Und tatsächlich können sie uns übermannen, das gehört zu unserer menschlichen Natur, zu uns als Nachkommen des Kain.
Doch ich lese die Erzählung von Kain nicht als fatalistische Erzählung über das Wesen des Menschen. Wir wissen, wozu der Mensch in der Lage ist und von wie vielen Orten auf der Erde das Blut unserer Brüder und Schwestern zum Himmel schreit.
Doch die Erzählung zeigt uns zugleich einen Ausweg. Gott hat Kain diesen Ausweg selbst angeboten: Sieh auf! Senk nicht deinen Blick. Kreise nicht nur um dich und deinen gekränkten Stolz! Lautet seine Aufforderung. Zeig Dich mir, zeig mir, was in Dir vor sich geht.

Gott weiß um unsere beschämenden Gefühle, und er sieht uns Menschen mit allem was zu uns gehört: unserer Missgunst, unserem Neid und unserer Eifersucht.
Gott kann uns so sehen und lässt doch nicht von uns: unter diesem Blick können wir ehrlich bestehen.

Vielleicht klingen Ihnen auch noch die Worte Jesu aus der Bergpredigt nach, die wir als Schriftlesung gehört haben:
Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Sind das andere Menschen als wir? Diese Sanftmütigen, Friedlichen? Das glaube ich nicht!
Ich glaube aber, dass je besser wir uns selbst erkennen können, je weniger wir unsere Empfindungen wegdrücken müssen oder für nichtexistent erklären, desto freier werden wir für die anderen Empfindungen, die auch zu uns gehören.
Unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit, unsere Fähigkeit einen friedlichen Umgang zu finden, unserer Bereitschaft das Schwache, das Fragile zu beschützen.
Freier einen gewaltlosen Weg zu suchen.

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Kontakt zur Sendung

Pfarrerin Barbara Wurz
Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Landeskirche in Württemberg beim SWR

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