Fürwahr, er trug unsere Krankheit

Kreuz in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Buecherwurm_65

Fürwahr, er trug unsere Krankheit
Rundfunkgottesdienst aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin
02.04.2021 - 10:05
26.03.2021
Pfarrerin Kathrin Oxen
Über die Sendung

 

 

 

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Predigt zum Nachlesen

Ideo delector in hoc textu quasi novi testamenti.
(Martin Luther zu Jes 53,4)

Mütend - ein neues Wort für ein neues Gefühl hat sich ausgebreitet. Eigentlich widersprechen sich diese Gefühle. Wer müde ist, kann nicht wütend sein. Wer wütend ist, wird nicht müde. Aber doch, ja, das geht. Es geht genauso wie so vieles andere, was wir uns bis vor gut einem Jahr nicht vor-stellen konnten. Das Leiden hat Gestalt angenommen in diesem vergangenen Jahr. Jeden Tag bli-cken wir in mütende Gesichter, schon morgens im Spiegel in das eigene. Die Masken verbergen zwar Blässe und Augenringe ganz gut. Aber in den Augen ist doch alles zu sehen, die Müdigkeit, die Wut. Wie viele Existenzen sind schon zerbrochen, gerade in den Bereichen, die unser Leben schön machen und ihm seine Fülle geben: Gemeinschaft, Genuss, Musik, Kultur. Ich bin jetzt ge-fühlt ein Jahr lang spazieren gegangen. Und jetzt bin ich mütend. Ich will, dass schneller geimpft wird, ich will essen gehen und danach ins Kino oder Koffer packen und mich auf eine Reise freuen. Ich will mein Leben zurück. Das Leiden war bisher, hoffentlich, oft, meistens anderswo. Aber nun hat es Gestalt angenommen in unseren Leben. Und das ist keine Gestalt, die uns gefallen hätte.

Und der alte, gute, böse Rat, daran zu denken, dass es anderen Menschen noch viel schlechter geht, ist kein Trost, im Gegenteil. Mir wird elend, wenn ich daran denke, wie viele Kinder und Ju-gendliche in unserem Land den Lockdown in einer kleinen Wohnung vor dem Fernseher verbracht haben, ohne Eltern mit Laptop, Drucker und fürsorglichen Ambitionen, wie gefangen in ihrer sozia-len Herkunft, bloß ohne Freigang. Und die viel größere Not durch die Pandemie anderswo auf der Welt.
So viel Leiden. Es hat unterschiedliche Gestalten angenommen. Es macht mich müde und wütend zugleich. Ein Jahr voller Karfreitage. Dieses Jahr hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen es, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Es war das Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Es war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir es für nichts geachtet.

Das ist über das vergangene Jahr zu sagen. Das ist leicht auf die vielen Gestalten des Leidens in diesem Jahr zu übertragen. Es sind die zeitlosen Worte über den Knecht Gottes aus der Hebräi-schen Bibel, aus dem Buch des Propheten Jesaja. Eine rätselhafte Leidensgestalt, über die man nicht viel weiß. Nur das eine: Dass man sie nicht sehen möchte. Dass man das Gesicht vor ihr ver-bergen, sich abwenden möchte davon, weil es einfach nicht mit anzusehen ist. Niemand will das. Niemand will Karfreitage, das merkt man schon lange an den Diskussionen um den Charakter die-ses Feiertags. Mach das weg, diesen Tag, das Leiden. Wir wollen nicht immer daran erinnert wer-den, dass es in unser Leben gehört. Aber jetzt ist es da. Der Karfreitag breitet sich aus, auch ohne Osterruhe, und zwingt uns, hinzusehen. Denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun se-hen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.

(Musik)

In dem Knecht Gottes hat sich das Leiden verkörpert. Es hat Gestalt angenommen, hat Hände und Füße bekommen und ein Gesicht. Ein paar Menschen haben Jesus sterben sehen, haben sein Lei-den mit angesehen, damals, in einer fernen Zeit auf Golgatha. Einige wenige nur, seine Mutter, eine Tante, der beste Freund, die Freundin. Der allerengste Kreis, so wie an so vielen Gräbern bei uns in diesem Jahr. Denn die Zeiten schieben sich ineinander. Die ferne Zeit ist auch unsere Zeit. Als sie damals in sein Gesicht sahen, so voller Blut und Wunden, da haben sie an den Knecht Gottes gedacht, sie und alle, die später davon hörten und es aufgeschrieben haben. 
Sie haben im Leiden Jesu, in seiner zerschlagenen Menschlichkeit, all das Leiden gesehen, das aus der fernen Zeit und das aus ihrer Gegenwart: Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemar-tert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschla-gen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir ge-heilt.

Er trägt unsere Krankheit, er lädt auf sich unsere Schmerzen. Die Zeiten schieben sich ineinander. Sein Leiden ist unser Leiden, Er leidet für uns. „Fürwahr“ übersetzten sie damals in Wittenberg an dieser Stelle den hebräischen Text, fürwahr, er trug unsere Krankheit.
Ich glaube, sie haben mit Absicht dieses Wort ausgesucht. Eben weil es so schwer ist, das für wahr zu halten: Gott ist im Leiden. Gott ist in seinem Knecht, Gott war in dieser namenlosen Leidensge-stalt und in Jesus am Kreuz. Niemand will das hören, niemand will das sehen. Schon damals wollte niemand unter dem Kreuz stehen und sich das mit ansehen. Bloß die paar, die ja schlecht wegge-hen konnten, wenn es den eigenen Sohn trifft, den Freund, den Liebsten. Es ist schwer zu glauben, fürwahr.

(Musik)

Fürwahr, er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen. Jetzt leiden wir. Jetzt trifft es nicht immer bloß die anderen, sondern uns, macht uns müde und wütend zusammen. Un-sere Seelen mühen sich so ab mit all dem, was passiert. Und jetzt hilft es, das für wahr zu halten: Gott schaut nicht von irgendwo her zu. Gott ist da, im Leiden, in der zu kleinen Wohnung bei den Kindern und ihren Eltern, im Krankenhaus natürlich, wo sonst keiner zu Besuch kommen darf. Bei denen, die um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten. Bei allen, die nicht tun können, was sie lieben und was ihr Leben erfüllt. An den Gräbern bei den wenigen, die dort stehen. Gott müht sich mit uns zusammen damit ab. Diese Pandemie, alle Krankheit, das Leiden, unsere Schmerzen sind Got-tes Schmerzen. Sie waren es in der Vergangenheit, sie sind es in der Gegenwart.

Aber es gibt auch eine Zukunft. Wir sehen sie heute noch nicht, aber sie kommt. Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Über diesen Knecht, diese Lei-densgestalt wissen wir nicht viel. Nur das, was Gott sagt: Er wird nicht im Leiden bleiben. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.
 

Es gilt das gesprochene Wort.
 

26.03.2021
Pfarrerin Kathrin Oxen