Predigt zum Nachlesen
Predigt Teil 1 Liebe Gemeinde, wir haben es gehört, das Evangelium, die frohe Botschaft: die Erzählung, wie Jesus als 12-Jähriger, als Heranwachsender, seine Eltern vor den Kopf stößt und erschreckt. Ohne ihr Wissen bleibt er im fernen Jerusalem und lässt sie drei Tage lang nach ihm suchen. So ist das mit Kindern und ihren Eltern – wenn die Kinder in das Alter kommen, in dem die Eltern schwierig werden. Die Kinder brechen auf. Gott sei Dank brechen sie auf. Sie gehen los und suchen ihren eigenen Weg. Und doch, wenn wir genauer hinschauen, mit ein bisschen Abstand: Oft wandeln die Kinder in den Spuren ihrer Familie. Sie gehen ihren eigenen Weg, aber finden Orientierung in den Pfaden, in denen sie aufgewachsen sind. So war es auch bei Jesus, wie uns der Evangelist Lukas erzählt: Es war Jesu eigener Weg, im Tempel zu bleiben, im Haus seines himmlischen Vaters, und eben nicht mehr einfach im Haus seiner irdischen Eltern. Aber so sehr er damit die Eltern vor den Kopf stieß: Jesus folgte dabei einer Spur, die er ja mit seinen Eltern teilte: die Spur des Glaubens und der Gottes-Suche. Ich finde das ein wunderbares Bild: Im Aufbruch, im Gehen des eigenen Weges – können wir Spuren folgen, die uns nicht fremd sind, weil wir darin aufgewachsen sind. Wenn ich meinen Weg suche, dann bin ich damit nicht allein. Ich habe doch schon eine Richtung, einen Impuls, eine Spur. Heute, in diesem Gottesdienst, geht es nun besonders um den Weg der Barmherzigkeit. Die Jahreslosung weist uns diese Richtung: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Jesus mahnt uns nicht irgendwie allgemein: „Seid barmherzig!“ Sondern er weist uns auch die Spur: Barmherzigkeit üben, das ist nicht schwer. Das ist doch eure Muttersprache. Ihr seid doch Gottes Kinder. Wie Kinder es ihren Eltern gleichtun, so auch ihr: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Das ist wie in unseren Posaunenchören. Da ist es oft so: Die Kinder tun es ihren Eltern gleich, oder ihren Großeltern, ganz spielerisch. Sie wachsen hinein. Jungbläser nennen wir diejenigen im Posaunenchor, die mit dem Spielen eines Blasinstruments anfangen, sei es als Kind oder als Erwachsener.
Schauen wir mal, was eine junge Bläserin selber dazu sagen könnte. Liebe Carla, bei dir ist es jetzt drei Jahre her, dass du mit dem Trompetenspiel begonnen hast. Wie war das für dich?
Das war schön. Obwohl: Es war ja nicht gleich so, dass ich im Posaunenchor mitspielen konnte. Eine Zeitlang hatte ich ja erst einmal nur Unterricht. Und immer üben…, das war anstrengend. Aber der Unterricht hat auch Spaß gemacht, zwei andere Jugendliche waren auch mit dabei.
Und wie war das dann, als du zum Posaunenchor dazu kamst?
Ich weiß noch, wie wir Jungbläser zum ersten Mal in einer Probe und im Gottesdienst mitgespielt haben. Drei Lieder. Ich war stolz.
Und, hast du dich da gleich zurechtgefunden im Chor?
Ja, ich kannte ja schon viele. Und mein Opa spielte auch mit. Ich saß neben ihm. Er spielt Tenorhorn. Manchmal hat er auch mit mir geübt, zuhause.
Und wie ist es jetzt? Die Choräle: Würdest du nicht gerne auch andere Sachen spielen? Bisschen was Modernes, Fetziges?
Ja, das spielen wir im Posaunenchor ja auch. Unser Chorleiter muss da manche Bläser zwar auch ein bisschen überzeugen. Aber die machen das schon alle mit. Sogar mein Opa. Neulich hab ich ihm mal gezeigt, wie das geht. Der Rhythmus und so.
Danke, liebe Carla, so kann das also sein, wenn ein junger Mensch in den Posaunenchor hineinfindet. –
Ich denke, so ähnlich ist es auch, wenn wir in die Barmherzigkeit hineinfinden. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Barmherzigkeit üben, das ist manchmal vielleicht mühevoll, aber nicht wirklich schwer. Als Kinder Gottes lernen wir Barmherzigkeit, wie die Jungbläser das Muszieren im Posaunenchor lernen und üben: Wir wachsen hinein. Wir wachsen hinein in die Spur der Barmherzigkeit. Es gibt ein Lied, das uns zeigt, wie vielfältig Gottes Barmherzigkeit ist: „Auf und macht die Herzen weit“.
Singen wir dieses Lied! Zunächst die beiden ersten Strophen, im Gesangbuch die Nummer 454, Str.1+2.
Predigt, Teil 2
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Barmherzig sein, das heißt: das eigene Herz für die Not anderer öffnen. Barmherzig bin ich da, wo ich mir fremde Not zu Herzen nehme und zu eigen mache. Wie sich Gott die Not von uns Menschen zu Herzen nimmt und zu eigen macht. Die Not von uns Menschen: Wir erleben sie auch bei uns. Gerade auch dieser Tage. Einsamkeit. Gedemütigt sein. Arbeiten wollen, aber nicht arbeiten können. Oder umgekehrt: überarbeitet sein. Gerade da, wo ich in eigener Not stecke, ist es umso wichtiger, dass ich den Blick für die Not der anderen nicht verliere. Das tut mir am Ende auch selber gut. Es bewahrt meine Menschlichkeit. Gott sei Dank, erleben wir das ja auch! Gerade in diesen Zeiten, in denen sozialer Kontakt immer wieder eingeschränkt ist. Wir sind auf Kontakt angewiesen. Wieviel nachbarschaftliche Hilfe war da schon zu erleben und lebt immer noch auf! Füreinander einkaufen, unkompliziert Hilfe anbieten, miteinander sprechen, aufeinander achten. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Ganz unspektakulär. Ganz praktisch.
Auch da denke ich wieder an die Posaunenchöre. Zu ihrem Dienst gehört ja auch das Spielen vor Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Wie eine Bläserin davon erzählen könnte? Liebe Carla, wie ist das für dich, solche Einsätze draußen in der Öffentlichkeit? Vor dem Seniorenheim oder auf dem Markplatz?
Also, zurzeit ist das Muszieren vor dem Pflegeheim ja oft das Einzige, was überhaupt noch geht. Was die Menschen hinter den Fenstern erreicht. Auch dann, wenn wir nur eine kleine Gruppe sein können. Neulich hab ich das richtig so gefühlt: Wir spielten buchstäblich über die Mauern hinweg, zu den Menschen. Das war ein tolles Gefühl. Das gibt mir auch selber was.
Das glaube ich. Aber ich hab noch eine Frage. Ihr nennt das Spielen im Freien in der Öffentlichkeit diakonisches Blasen, aber auch missionarisches Blasen. Mission: Klingt das nicht ein bisschen aufdringlich? Wollt ihr die Leute wirklich missionieren?
Also, ich will Musik machen und den Leuten eine Freude. Und natürlich erzählen die Lieder von unserem Glauben an Christus. Das sollen sie auch. Die Leute sollen ruhig merken, welche Hoffnung uns erfüllt. Missionarisch ist für mich das, was überzeugend ist. Ich erlebe es nicht, dass sich die Leute da irgendwie bevormundet fühlen.
Auch nicht auf dem Marktplatz oder auf der Straße?
Nein, die meisten Zuhörer freuen sich einfach. Klar, ich habe es auch schon erlebt, dass manche Passanten uns verwundert ansehen, nach dem Motto: Was die Bläser denn da wollen, mit ihren christlichen Chorälen?... Da hab ich ein bisschen gespürt, was es heißt, für seinen Glauben einzustehen. Hinzustehen und weiterzuspielen. Die Leute sollen ruhig merken, welche Hoffnung uns erfüllt, sagst du. Das ist schön. Wie würdest du das sagen, welche Hoffnung erfüllt dich?
Für mich sagen das unsere Lieder am schönsten. Das Lied von Gottes Barmherzigkeit zum Beispiel: Daran glaube ich wirklich. An Gottes Barmherzigkeit.
Danke, Carla. Dann lasst uns unser Lied weiter singen. Die beiden nächsten Strophen: „Gottes Macht schützt, was er schuf, den Geplagten gilt sein Ruf.“ Im Gesangbuch die Nummer 454, Strophen 3+4.
Predigt, Teil 3
„Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Das ist mein Hoffnungsbild: Dass sich Gottes Barmherzigkeit in unserem Leben entfaltet. Dass sie unter uns aufleuchtet, in vielen verschiedenen Farben und Tönen. Schauen wir uns einige dieser Farben an: Gottes Barmherzigkeit leuchtet auf, wo wir einander beistehen. Wo unsere eigene Not nicht dazu führt, dass unsere Augen blind werden und unsere Sinne stumpf werden für die Not der anderen. „Gottes Macht schützt, was er schuf, den Geplagten gilt sein Ruf.“ Gottes Barmherzigkeit leuchtet auf, wo ich mir eingestehen kann, wenn ich an anderen schuldig werde. Und ich kann Schuld eingestehen, wo ich auf das vertraue, was wir singen: „Gottes Liebe deckt die Schuld, trägt die Sünder in Geduld.“ Was für eine Befreiung im Umgang mit mir selbst und mit anderen!
Gottes Barmherzigkeit leuchtet auf, wo wir einander auch unbequeme Wahrheiten sagen. Es ist wohl barmherzig, dem anderen nicht alles zu sagen, was ich an ihm kritisch sehe, natürlich. Aber es wäre unbarmherzig, es nicht zu sagen, wenn er darauf angewiesen ist. Kritik ist ein Liebesdienst. Kriterium ist freilich, dass es mir wirklich um den anderen geht, und nicht darum, recht zu haben mit meiner Sicht der Dinge. Auch davon singt unser Lied: „Gottes Wort ruft Freund und Feind, die sein Geist versöhnt und eint.“ Gottes Barmherzigkeit leuchtet auf, wo wir uns dafür einsetzen, dass wir beieinander bleiben, so verschieden wir sind. Wie das Posaunenchören geht? Schauen wir einmal, wie es eine Chorleiterin sehen könnte:
Liebe Chorleiterin, wie ist das im Posaunenchor? Ihr sprecht ja gerne von der großen „Bläserfamilie“. Das klingt schön. Aber geht es wirklich immer so harmonisch zu?
Gegenfrage: Geht es denn in Familien immer so harmonisch zu? Normalerweise schon. Aber manchmal muss ich den Laden auch ganz schön zusammenhalten. Die einen sind auf ihrem Instrument ein bisschen besser, die anderen wollen lieber einfache Sachen spielen. Und ein Stück, das die einen toll finden, gefällt den anderen gar nicht. Das gibt es schon.
Und was macht ihr dann? Wie gelingt es, den Chor zusammenzuhalten?
Meine Erfahrung ist: Bläser haben Geduld miteinander. Wir haben ja ein gemeinsames Ziel und machen was Praktisches: Wir wollen Musizieren. Wir wollen mit unseren Glaubensliedern bei den Menschen sein.
Das heißt: Miteinander Musik machen, das verbindet.
Ja, genau. Es geht darum, dass jeder seine Stimme einbringt – aber nicht stur und rücksichtslos, so dass er die anderen rausbringt. Man muss schon aufeinander hören.
Danke, liebe Chorleiterin, – und ich denke, das ist nicht nur eine musikalische Frage. – Die eigene Sichtweise einbringen, aber nicht rücksichtslos, so dass sie andere ausgrenzt. Man muss schon aufeinander hören. Auch das gehört zur Barmherzigkeit. Das mag uns schwer fallen. Denn wo ich mit Menschen zusammen lebe, wird es immer wieder vorkommen, dass ich die Sichtweise des anderen für falsch halte, vielleicht sogar für unerträglich. Dass ich darunter leide. Auch in unserer Kirche ist das so. Wir haben verschiedene Sichtweisen, die uns wichtig sind. Und manche halten wir sie wechselseitig gar für unerträglich. In Fragen der Sexualität, der politischen Haltung, des Zusammenlebens, des Umgangs mit der Pandemie.
Mir ist wichtig: Diese Fragen sind bedeutsam, aber nicht trennend. Gestehen wir einander zu, dass wir in unserer Kirche alle dem Weg Jesu folgen. Streiten wir uns ruhig über die richtigen Schritte auf diesem Weg. Das müssen wir lernen und tun. Aber streiten wir einander nicht ab, dass wir überhaupt auf demselben Weg sind. Und schließlich noch ein letzter Tupfer im Farbenspiel der Barmherzigkeit Gottes: Sei auch barmherzig mit dir selbst. Gesteh dir deine Bedürftigkeit ein. Barmherzig bist du, wenn du Hilfe nicht nur gibst, sondern dir auch gefallen lässt.
Das gilt auch uns als Kirche. Barmherzigkeit weitergeben und verkünden, das ist relativ klar. Da fühlen wir uns groß und sicher. Aber eingestehen, dass wir selbst auf Barmherzigkeit angewiesen sind, ist viel schwerer. Eingestehen, dass wir nicht die Helfer sind, sondern die Hilfsbedürftigen; dass wir auch als Kirche nicht die großen Macher sind, sondern ganz von Gottes Gnade leben, das ist schwerer. Das braucht mehr Übung. Ab erst da kommen wir zu unserer Wahrheit. Gottes Barmherzigkeit baut uns auf. Auch uns als Kirche.
„Darum macht die Herzen weit, euren Mund zum Lob bereit!“ Amen. |