Predigt zum Nachlesen:
I
In diesen Frühlingstagen kann ich es kaum erwarten, nach draußen zu gehen. Die Sonne wärmt schon richtig und wenn es der Nordseewind erlaubt, setze ich mich ans Wasser und schaue in die Weite – und auf die anderen Menschen, die - wie ich - ins Freie kommen. Wie unterschiedlich sie unterwegs sind! Kinder tollen und toben und man merkt ihnen an, wie sie die Freiheit, draußen zu sein, genießen. Die Eltern oder Großeltern gehen gesetzter hinterher - nur plötzlich beschleunigt, wenn eines der Kinder auf die Nase fällt oder zu nah an die Weser läuft. Jugendliche in Gruppen, munter plaudernd, aufrecht, heiter. Kleine Rangeleien zwischendurch, Ausfallschritte nach rechts und links. Und Manche eher zögerlich, verhalten, suchend. Andere mit gebeugtem Kopf und hängenden Schultern, als trügen sie eine schwere Last.
Wie gehe ich wohl? Wenn ich mir selbst dabei zusehen könnte? Und hat sich das verändert in meinem Leben? Über die Jahre und Jahrzehnte? Optimistisch und aufrecht? Neugierig auf das Leben? Oder zögerlich und ängstlich, mit Zweifeln und Sorgen? Früher eher offen und suchend – und später immer zielgerichteter und schneller? Oder vielleicht auch umgekehrt: Früher schnell in irgendeine Richtung und jetzt eher überlegend und ruhig?
Wie ist das bei Ihnen? Wie sind Sie unterwegs?
Die Geschichte eines Weges haben wir eben auch gehört in der Lesung: Das Oster-Evangelium bei Lukas, der Weg nach Emmaus. Diese beiden Jünger stelle ich mir langsam gehend vor, mit gesenktem Blick, ratlos, tastend, verwirrt. So groß war die Freude und die Hoffnung vorher, das Leben mit Jesus, seine Worte, die Wunder, die sie mit ihm erlebt hatten, sie hatten Gott ganz nah gespürt - und genauso so groß ist jetzt die Enttäuschung, geplatzte Träume, verlorene Illusionen: Jesu Tod am Kreuz und die unverständlichen Geschichten, die die Frauen erzählt hatten: Engel, ein leeres Grab? Was soll man davon halten?
Und wie ist es bei uns?
Wären wir hier in der Kirche oder hätten wir das Radio zum Gottesdienst angestellt, wenn wir nicht auch schon diese wunderbare Nähe erlebt hätten? Einmal in unserem Leben? Eine Ahnung oder einen Hauch davon gespürt hätten, was es heißt, Gott ist da, Gott ist ganz nah.
Und genauso kennen wir es auch, dass das alles uns wieder verloren geht: das Gefühl, etwas ganz Wichtiges, Entscheidendes auf unserem Weg durchs Leben verloren zu haben. Plötzlich ist alles fort: Die innere Heimat, das Gefühl, dass das Leben trotz allem einen Sinn hat, die Zuversicht, nicht alleine zu sein. Und zurück bleibt nur Leere.
II
Wie ist das bei uns? Heute? In dieser Zeit? Leben wir mit den Geschichten der Bibel? Oder sind sie uns fraglich geworden? Müsste es nicht alles ganz anders sein, wenn es Gott wirklich gäbe? Wenn diese Geschichten wahr wären? Müssten nicht die Kriege endlich aufhören, der Hunger, die Gewalt, die Ungerechtigkeit? Sollte nicht längst die Liebe herrschen überall auf der Welt? So wie es schon die Jünger Jesu gehofft haben? Das Reich Gottes?
Die Jünger Jesu gehen zurück in ihre alte Heimat. Vielleicht hoffen sie, ihr altes Leben wieder aufnehmen zu können? Nach einer großen Enttäuschung wieder auf dem Boden angekommen, schmerzhaft, aber am Ende realistisch?
Doch irgendetwas lässt sie nicht mehr los. Es gibt Erfahrungen, die kann man nicht so einfach abschütteln. Man trägt sie in sich, auch wenn das Leben irgendwie weitergeht. Das Herz fühlt sich vielleicht taub an, beschwert, kann Zeichen des Lebens nicht erkennen, ist verschlossen.
Die Begegnung mit dem Tod ist so eine Erfahrung. Jesu Kreuzigung war eine grausame, öffentliche Demonstration von Vernichtung und Gewalt. Solch eine Erfahrung gräbt tiefe Spuren in die Seele, so wie die Erfahrungen von Krieg und Gewalt zu allen Zeiten.
Das Vertrauen ins Leben wird beschädigt oder sogar zerstört, man verliert den Boden unter den Füßen, was gilt noch? Was trägt noch? Was zählt ein Menschenleben? Was lernen Kinder über das Leben, die im Krieg aufwachsen? Und was lernen sie über einen Gott, in dessen Namen die Kriege geführt werden?
Siegen Krieg und Gewalt oder das Leben und die Liebe – das ist die Oster-Frage, der wir uns auch dieses Jahr wieder aussetzen. Wie können wir lebendig bleiben in diesen Zeiten?
So sind auch die Jünger Jesu auf dem Weg, gebeugt, enttäuscht, desillusioniert. Und da gesellt sich – unerkannt – der auferstandene Christus an ihre Seite. Er fragt nach und hört zu. Da entsteht wieder ein Gespräch. Sie können über all das reden, was sie erlebt haben und was sie im Innersten bewegt. Ein erster Schritt: „Walk and Talk“ – gehen und reden,
So ähnlich war es auch in der Corona-Zeit. Viele gute Gespräche waren zuerst nur so wieder möglich: draußen an der Luft, gemeinsam in Bewegung, mit den Augen in eine Richtung, mit den Gedanken ganz bei sich selbst. Ein erster Schritt: Vom eigenen Leben erzählen, mich sichtbar machen, fühlbar, was mich bewegt.
Und irgendwann kann Christus dann auch sein Wort sagen und wir können es wieder hören, können wieder hinausgelangen über die eigene Sicht. Manchmal dauert das sehr lange, eine lange Wegstrecke, um offen zu werden für das Wort Jesu, das Wort Gottes, das er in unsere Situation hinein spricht. „Musste nicht Christus das erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und den Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.“
Was ist das für ein Gott, von dem die Bibel erzählt? Kein Strippenzieher, der von oben herab den eigenen Plan verfolgt und am Ende siegreich sein Reich errichtet. Eher einer, der sich einen gewundenen Weg bahnen muss durch unsere verrückte Welt. Keine Promenaden und Panzerstraßen sondern vielmehr Umwege und Nebenstrecken. So wie bei Jesus, der durch die Niederlage zum Ziel kommt. Ein Glaube, der aus der größten Niederlage neu geboren wird. Ostern. Der Gott, der Erfolg und Glück sichert, ist tot – und der Gekreuzigte lebt!
III
Diese Geschichte ist eine meiner Lieblingsgeschichten, weil sie so viel erzählt über das Leben. Wenn wir sie wie eine Urerfahrung lesen, die die ersten Christen so erlebt haben, dann kann sie ein Bild werden auch für unseren Lebensweg.
Im Gespräch mit Christus das eigene Leben leben, den eigenen Weg gehen. Von den Worten und Erfahrungen der Bibel mich herausfordern und ermutigen lassen. Gerade auch auf steinigen Pfaden. Gerade auch in verrückten und furchtbaren Zeiten, gerade in dieser gebrochenen Welt: Offen werden und vertrauen, dass Christus mit mir auf dem Weg ist, oft unerkannt, lange Zeit.
Erkennen und verstehen kann ich das oft erst hinterher. Wenn wieder Lebendigkeit in mich hereinströmt und ich mein taub gewordenes Herz wieder spüre. Erst als Jesus auch abends bei ihnen bleibt und ihnen das Brot austeilt, erkennen die Jünger ihn. Das Herz, das weiß, wie sich Tod, Leid und Schmerz anfühlen, ahnt jetzt ein bisschen davon, was Auferstehung sein kann. Wie ein Wiedersehen und Wiedererkennen. Wie eine Nähe, die ich schon einmal erlebt haben, und die dann irgendwo verloren gegangen ist. Jetzt ist sie wieder da. Anders als vorher, ohne Illusionen vom heilen Leben, mit Narben und Wundmalen – und: lebendiger denn je!
Wie gehe ich von hier aus weiter? Mit welcher Haltung? Und mit wem?
„Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden.“ Eine Ahnung von Ostern wird reichen, um weiter zu gehen, eine Erinnerung an diese wunderbare Nähe, an ein tiefes Gespräch, an viele erfüllende Erfahrungen. Aufrecht und aufmerksam für verborgene Zeichen und Wunder, mit denen Gott mich jeden Tag anstößt. Mit hellwachen Sinnen für die Lebendigkeit, die mir jeden Tag zuströmt. Aus der Schöpfung, aus Begegnungen, aus Vertrauen und aus der Sehnsucht, dass Christus jeden Tag da ist und da bleibt.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.