Kirchengemeinde Petrus, Bern/Schweiz
Verloren und gefunden
aus der Petruskirche in Bern (Schweiz)
02.11.2025 10:05

Am Sonntag, dem 2. November 2025, ab 10.05 Uhr übernimmt der Deutschlandfunk von SRF2 Kultur und SRF Musikwelle die Liveübertragung des evangelisch-reformierten Gottesdienstes aus der Petruskirche in Bern. Die Predigt und die Liturgie hält Pfarrerin Claudia Kohli Reichenbach.

Verloren. So kann man sich manchmal in der dunklen Jahreszeit fühlen. Verloren gehen, sich selbst verlieren – das ist eine existenzielle Erfahrung. Jesus erzählt von zwei Brüdern, die beide auf ihre Weise sich selbst und der Welt abhandenkommen. Der jüngere verprasst sein Erbe. Der Vater verstößt ihn jedoch nicht. Er gibt sogar ein Fest, als sein verlorener Sohn heimkehrt. Das ganze Haus feiert, aber einer bleibt außen vor: Der ältere Bruder. Der kommt sich verloren und betrogen vor. Der Vater geht ihn suchen.

Über diese Geschichte predigt Pfarrerin Claudia Kohli Reichenbach.

Musikalisch wird der Gottesdienst gestaltet von Mirjam Voltz (Marimba, Perkussion) und Olivia Ceresola (Orgel, Piano). Mal festlich und tänzerisch, dann wieder filigran und graziös führt die Musik durch den Gottesdienst mit Werken von Jean-Philippe Rameau, Pierre Cochereau, Johann Sebastian Bach und Steffen Wick. Als Lektorin wirkt Steffi Göber-Moldenhauer mit.

 

Predigt nachlesen:

Eine Melodie muss es gewesen sein, die Martin Luther King als Letztes am frühen Abend vom 4. April 1968 hörte. Martin Luther King, der Bürgerrechtler und Friedensnobelpreis-träger aus den USA stand mit seinen Freunden auf dem Balkon eines Motels in Memphis, bevor der tödliche Schuss fiel.

Sie besprachen die anstehende Abendveranstaltung und Martin Luther King sagte zum Saxophonisten: Spiel den Gospel «Prescious Lord, take my hand», spiel ihn besonders

schön heute Abend! «Prescious Lord, take my hand and lead me home», «Mein guter Gott, nimm meine Hand und führe mich nach Hause.»

Wo ist das Zuhause? Im Gleichnis aus dem Lukasevangelium will der jüngere Sohn weg. Er fragt seinen Vater nach seinem Erbteil. Ohne Aufsehen, ohne vorwurfsvolle Untertöne erzählt die Geschichte, dass der Vater ihm dieses gibt und ihn ziehen lässt.

Fernab fällt der Sohn ein paar richtig schlechte Entscheidungen. Er prasst, gerät in eine Abwärtsspirale. Er hängt sich an einen Menschen, landet bei den Säuen. Nicht einmal deren Futter darf er essen. Fernab ist er verloren, «lost», wie es auf Englisch in vielen Gospels heisst.

«lost». Verloren in der eigenen Krise. Verloren in der Krise der Welt. Es gibt nichts mehr zu beschönigen. Fernab erinnert er sich. Der Sohn geht in sich, wie es in der Geschichte so eindringlich heisst. Er geht in sich. Spürt das Zuhause.

Spürt den Abgrund. Spürt, was ihm jämmerlich fehlt. Ein Zurück nach Hause wird es nicht mehr geben. Im Kopf bereitet er eine Rede vor, preist sich als Taglöhner an. Das muss allemal besser sein als das, was ich jetzt habe. Und dann kehrt er um. Als er noch weit entfernt ist, sieht ihn der Vater. Der Vater sichtet seinen Sohn in der Ferne, weit weg. Und dieses «weit-weg» hat es in sich. Der Evangelist Lukas, der das Gleichnis von Jesus auf Griechisch niedergeschrieben hat, braucht für dieses «weit-weg» das Wort «makran».

Lukas mag dieses Wort, weil es auf den Punkt bringt, wo wir Menschen oft landen: «weit weg». Es beschreibt nicht nur eine räumliche Distanz. Es beschreibt einen Zustand, der uns allzu vertraut ist. Wenn das Leben über die Bühne geht und wir innerlich weit weg sind, verloren. Weit weg von mir selbst - wenn ich zwar funktioniere, mich bespasse, wenn ich leiste, reagiere, aber die Dankbarkeit für das, was mir das Leben tagtäglich schenkt, nicht mehr spüre.

Weit weg von Gott, von dem, was mich trägt und belebt. «weit weg» ist der Ort, wo das Staunen verstummt und das innere Glück. Und genau dorthin, wo der Mensch weit weg ist, «makran» reicht der Blick des Vaters. Er sichtet ihn. Und jetzt wird es rasant: Der Vater rennt los, fällt dem Sohn um den Hals, drückt ihn, küsst ihn. Der Sohn will etwas sagen, seine im Kopf vorbereitete Rede vortragen. Aber der Vater drückt ihn noch mehr. Er schert sich nicht darum, was sein Sohn verpatzt hat. Es interessiert ihn nicht. Es interessiert ihn nur, dass er jetzt da ist. Kein Vorwurf, kein Nachtragen, kein Besserwissen – nichts von alldem. Nur Freude. Pure Freude. Freudenrausch.

Holt ihm ein Kleid! Holt ihm Schuhe! Holt ihm einen Ring! Wie ist es Zuhause? Eingekleidet wird der Sohn – er wird mit Würde ausgestattet. Schuhe kriegt er. Schuhe tragen nur freie Menschen. Sklaven mussten barfuss gehen – er wird mit Freiheit ausgestattet. Und mit Vertrauen. Der Vater lässt dem Sohn einen Ring anstecken und sagt so:

Ich vertraue dir! Ein Ring bedeutet in der Antike Autorität. Das finde ich das überwältigendste Zeichen: Er vertraut ihm. Traut ihm etwas zu. Hält ihn nicht für einen Verlierer, einen Loser. Er gibt ihm wieder seinen Platz in der Gesellschaft. Er sieht ihn an - nicht als den, der scheiterte, sondern als den, der lebt. Der sein darf. So sieht er ihn an. Sieht mich an. Sieht dich an. Du darfst sein.

Der ältere Sohn, der Daheimgebliebene,- er findet diese Rasanz, diese Extravaganz mit Musik und Tanz schockierend. Was soll diese Masslosigkeit? «Nie habe ich einen Bock bekommen und der andere bekommt das feinste Essen. Nie habe ich mit Freunden feiern können und er, der sich mit Prostituierten umgab, bekommt ein Fest», platzt es aus ihm heraus. «All die Jahre habe ich dir gedient und er da, dieser dein Sohn, sahnt nun ab».

Natürlich verstehen wir ihn, seine Enttäuschung, seinen Zorn. Schliesslich war er treu. Natürlich ist es bitter. Am bittersten, dass er sich selbst als einen wahrnimmt, der vor allem geschuftet hat, gedient hat, wie er sagt. Den Titel des Sohnes braucht er nur für seinen jüngeren Bruder: «dieser dein Sohn». Er selbst: ein Diener. Darum bleibt er draussen auf dem Feld.

Ich da. Er dort.
Wir da. Sie dort.

Wir kennen die Polaritäten. Und wir wissen allzu gut, dass sie Fronten verhärten. Jenseits des Atlantiks, aber auch in unserer Gesellschaft. Schwarz-Weiss-Denken ist eine Seuche, gegen die keiner von uns gefeit ist. Wiederum macht sich der Vater auf. Wiederum keine Vorwürfe. Nur das Flehen: Komm nach Hause!

«Lead me home», führ mich nach Hause, heisst es im Lied, das Martin Luther King auf den Lippen lag, als er ermordet wurde und das keiner so innig vertont hat wie Elvis Presley. Führ mich nach Hause. Dann einmal, wenn unsere Zeit auf dieser Erde zu Ende geht.

Und erst recht heute schon, jetzt. Führ mich nach Hause. Wie oft tummle ich mich anderswo  herum. Verliere mich im Rechnen: Er hat es besser als ich. Verliere mich in Bitterkeit: Wie hat sie das verdient? Wie oft flattert meine Seele anderswo herum. Taucht ab ins Nörgeln über mich selbst. 

Vergisst die Würde, die Freiheit und den Ring. Führ mich nach Hause. Nach Hause, wo das Fest weitergeht. Der Evangelist Lukas, der Geschichtenerzähler, er hat hier sehr raffiniert eine Zeitform gewählt, die keinen Abschluss kennt, sondern immer währt: Das Fest geht weiter!

Freudenrausch mit Musik, mit Tanz. Madeleine Delbrêl, die Poetin und Mystikerin der Strasse, die sich in den 1930er Jahren in einem Pariser Vorort den Armen zuwandte, Madeleine Delbrêl verstand das Leben als Tanz. Sie verstand es als immerwährende Einladung, Gottes Musik zu folgen.

Zuhause ist, wer loslassen kann, tanzen, einschwingen in den Rhyhmus, den Gott auf uns überträgt. Madeleine Delbrêl schreibt:

Um gut tanzen zu können braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt. Man muss ihm nur folgen, darauf gestimmt sein, schwerelos sein. Und vor allem: man darf sich nicht versteifen, sondern ganz mit dir eins sein – und lebendig pulsierend einschwingen in den Takt des Orchesters, den du auf uns überträgst. Wir haben so oft die Musik deines Geistes vergessen, wir vergessen, dass es monoton und langweilig nur für grämliche Seelen zugeht, die als Mauerblümchen sitzen am Rand des fröhlichen Balls deiner Liebe.

Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid. Gib, dass wir unser Dasein leben nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist, nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen, sondern wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet, wie einen Ball, wie einen Tanz, in den Armen deiner Gnade, zu der Musik allumfassender Liebe.

Amen

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 

Kontakt zur Sendung

Pressekontakt:
Andrea Aebi, Pfarrerin I Radio/TV-Beauftragte
Reformierte Medien
Pfingstweidstrasse 10
CH-8005 Zürich

Telefon +41 (0)79 641 88 59
Mail: andrea.aebi@ref.ch