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Das Recht, Rechte zu haben
Deutschlandfunk-Radiogottesdienst am Reformationstag
31.10.2025 10:05

"Das Recht, Rechte zu haben." Das fordert Hannah Arendt für jeden Menschen, egal in welchem Land er oder sie lebt. Die deutsch-US-amerikanische Philosophin ist in Linden geboren, einem Stadtteil Hannovers. Aus der dortigen Bethlehemkirche kommt der evangelische Radiogottesdienst am Reformationstag, Freitag, 31. Oktober 2025. Der NDR überträgt live ab 10.00, der Deutschlandfunk schaltet sich um 10.05 Uhr zu.

Hannah Arendt ist bekannt für ihre Gedanken zum Holocaust und für ihre Überzeugung: Jeder Mensch hat ein Recht auf Rechte. Der Staat hat die Rechte jeder und jedes Einzelnen zu schützen. Das greift Pastor Marcus Buchholz in seiner Predigt auf: "Eine Quelle für Menschenrechte ist der christliche Glaube und besonders die Reformation. Ohne die Protestanten würden wir heute in einer anderen Welt leben."

Im Gottesdienst wirkt Malte Schubert von Amnesty International mit. Amnesty International setzt sich weltweit für den Schutz der Menschenrechte ein. Die Liturgie gestaltet ein Team mit Pastorin Meret Köhne. Chöre und Bläser der Kirchengemeinde begleiten den Gottesdienst musikalisch.  

Bildrechte-Ergänzung:
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Predigt nachlesen:
 

I
Zwei Jahrzehnte lang lebt der Plantagenarbeiter Andre Dembele in Ketten. Er ist 49 Jahre alt. Bewegungslos hockt er in der Schwüle auf seinem Bett. Ein Skelett, das von Pergamenthaut überzogen ist, mit gelben Fingernägeln wie Krallen. Nur selten hebt sich das Tuch an der Türöffnung und er bekommt eine Blechschale mit gestampftem Maniok oder etwas Wasser hereingeschoben.

Es war sein eigener Bruder, der ihm eine Eisenstange zwischen die Knöchel geschraubt hat. Er sei besessen, sind sie sich einig im Dorf in dem westafrikanischen Land Burkina Faso. Schon die bloße Berührung eines Epileptikers, eines Schizophrenen, eines Manisch-Depressiven könne dazu führen, dass die Dämonen überspringen auf die Gesunden – so das Vorurteil.

Andre Dembele ist einer von schätzungsweise Zehntausend dieser so genannten Kettenmenschen in Westafrika. Der Journalist Wolfgang Bauer hat diesen Missstand zufällig entdeckt, Reportagen veröffentlicht. Die daraus entstandene Organisation "Menschen ohne Ketten e.V." unterstützt zehn Auffangstationen in der Elfenbeinküste und in Burkina Faso. In Psychatriezentren wird den traumatisierten Menschen akut geholfen und sie finden Schutz.

Andre Dembele wurde befreit und in einem Auffangzentrum behandelt. Was für eine Tat der Nächstenliebe. Er lebt frei und gleich an Würde und Rechten – entsprechend dem ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN, der Vereinten Nationen von 1948.

Menschen werden immer wieder in Ketten gelegt.

Martin Luther hat vor mehr als 500 Jahren eine Kirche erlebt, die aus seiner Sicht Menschen angekettet hat. Martin Luther wollte zurück zur Botschaft der Bibel – er wollte weg von den christlichen Glaubens-Sätzen kommen, die Menschen abhängig machten. Mit der Sehnsucht nach Heil wurde damals ein richtig gutes Geschäft gemacht. Menschen sollten bezahlen, um sich Seelenheil zu kaufen. Hier rief Luther: Protest. 95 Mal. Mit seinen 95 Thesen. Was damals in Wittenberg begann, war eine historische Wende. Es ist aus meiner Sicht gar nicht zu überschätzen, was dies bedeutet hat: Von der "Freiheit eines Christenmenschen", so hat Luther es genannt. Damals haben sich viele Menschen durch kirchliche Gebote unterdrückt gefühlt. Luther war davon überzeugt, was in der Bibel steht: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! (Galater 5,1) Damit haben die Reformatoren wie Luther, Zwingli oder Calvin einen Grundstein für die Menschrechte gelegt. Erst viele Jahrhunderte später wurden Menschenrechte allgemein erklärt und verbrieft – im Jahr 1948.

Bis heute werden täglich die Rechte von Menschen gebrochen. Geld und Einfluss bestimmen so viele Konflikte. Machtfragen unterdrücken Menschen darin, wie sie leben und arbeiten. Schon damals war das so – im tiefsten Mittelalter: Der aufmüpfige Mönch Martin Luther aus Wittenberg stellte die Einnahmequellen des Papstes in Frage. Und er zweifelte an, dass der Papst die Deutungshoheit im Glauben habe. Jede und jeder sollte selbst die Bibel lesen können und sich ein eigenes Urteil in Glaubensfragen bilden. Luther übersetzte griffig und für alle verständlich die Bibel ins Deutsche. Reformation – Erneuerung der Kirche, das wollte Luther – eine Aufgabe, die nicht aufhört und auch heute weitergehen muss.

 

II
Die Reformation muss heute weiter gehen: 1 m2 Menschenrecht – so heißt die Installation, die bei uns vor der Bethlehemkirche stand: Auf 176 Plakatwänden waren vor ein paar Tagen noch Bilder des Kriegsfotografen Wolf Böwig zu sehen. Eine Plane haben wir jetzt in die  Kirche gehängt – sie ist hier gleich neben mir. Darauf zu sehen: Kriegs- und Fluchtszenen, Menschen, die an den Europäischen Außengrenzen gestrandet sind, verletzt wurden, ja ausgelöscht. Ein Foto zeigt Jugendliche, die in einem zerstörten Dorf Basketball spielen, der Korb ist zerrissen. Aber sie werfen voller Energie den Ball – umgeben von Gewalt und Waffen inmitten eines ukrainischen Dorfes. Dabei haben sie ein Recht auf Jugend,  ein Recht auf Sport und sich frei zu bewegen, ein Recht auf Zukunft. Viele Menschen aus unserem Hannover Stadtteil LInden haben sich die Installation in unserer Kirche angeschaut.  Sie haben Nachrichten hinterlassen und auf Plakatwände ihre Meinung geschrieben. Viele Sätze bewegen mich sehr. Zum Beispiel diese: "Standpunkthalten. Auge um Auge und wir sind alle blind. Frieden für alle. Runter mit der Festung Europas. Für den Ausbruch des ersten Weltfriedens. Mitgefühl statt Egoismus. Gegen den Hass."

Jesus sagte in seiner Bergpredigt: "Selig sind die, die Frieden stiften." Jesus wirkt mit seinen Seligpreisungen wie ein Glücklichmacher. Er beginnt seine Bergpredigt mit Gratulationen. Er gratuliert Leuten, die alles andere als Siegertypen sind. Menschen, die Not leiden und in der Welt nichts gelten. Er beglückwünscht diejenigen, die in diesem Leben oft um ihr Recht gebracht werden. Diejenigen, die an die Macht der Liebe glauben und nicht an die Sprache der Gewalt. Diejenigen, die aufrecht und ehrlich durchs Leben gehen, anstatt zu lügen und zu tricksen. All denen gratuliert Jesus und stellt damit die Welt auf den Kopf. Denn in der Welt ist es die Regel, dass die Leidtragenden ausgegrenzt werden, die Sanftmütigen übers Ohr gehauen, die Barmherzigen ausgenutzt und die Friedensstifter verlacht werden. Jesus preist gerade diese scheinbaren Verlierer selig und sagt ihnen Gottes Heil zu. Damit stellt er die gängigen Maßstäbe dieser Welt radikal infrage.

Und genau darin liegt für mich der "christliche Change" im Leben: Die Armen und Leidtragenden dieser Welt sind bei Gott nicht vergessen, ja sogar selig. Das macht den Kern der Seligpreisungen aus. Das tröstet und stärkt. Mit den Seligpreisungen wirbt Jesus für mehr Liebe unter uns, dass wir barmherzig(er) miteinander umgehen -  auch in unserem Stadtteil Linden. Hier sind viele ohne Obdach, leiden unter Altersarmut. Es wohnen Geflüchtete aus der Ukraine hier, die mit Kriegs-Traumata leben.

"Und dann stell dir all die Menschen vor, die in Frieden leben." John Lennon hat den Song "Imagine" komponiert. Mich begleitet der Song seit meiner Zeit als junger Erwachsener: "Imagine all the people. Livin' life in peace", zu Deutsch: "Stell dir all die Menschen vor, die in Frieden leben." John Lennon träumte von einer  großen Menschheits-Familie - auf einem wunderbaren Planeten, der allen gehört. Lennon komponierte dafür diese sanfte und einfache Melodie. Für die Jugend damals wurde Imagine zu einer Friedens-Hymne. Für mich auch. Am 8. Oktober 1980 wurde John Lennon in New York bei einem Attentat auf offener Straße ermordet. Aber seine Friedenshymne bleibt bis heute.

Ich höre den Song, während ich die Seligpreisungen Jesu lese. Dabei zeichnet sich vor meinem inneren Auge ein Hoffnungsbild ab: Ich stelle mir vor, wie Jesus auf dem Berg steht mit weit ausgebreiteten Armen und diese Worte sagt: "Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen." Die Seligpreisungen sind ein Bilderbogen für ein glückliches Leben – aus getroster Freiheit heraus. Acht Seligpreisungen, acht weit geöffnete Türen zum Glück. Das Glück, Trost zu finden und Gerechtigkeit und Frieden. Imagine… Stell dir vor, alle Menschen haben ein Recht darauf, Rechte zu haben. Stell dir vor: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden."

Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.

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