In seiner Predigt nimmt Pastor Christoph Schroeder die Hörerinnen und Hörer mit hinein in die Welt des "Schimmelreiters". Die Geschichte von Hauke Haien, dem Deichgrafen aus Theodor Storms Novelle, steht für den Kampf gegen Vorurteile, Gerüchte und das irrationale Misstrauen in einer Gemeinschaft.
Pastor Schroeder zieht daraus eine aktuelle Lehre: Schon bevor ein Deich bricht, können Gerüchte und Verleumdungen die sozialen Dämme in einer Dorfgemeinschaft zerstören: "Lange bevor die Deiche brechen, verwüsten Stürme des Irrationalen die Seelen der Menschen." Musikalisch gestaltet Kirchenmusikerin Frauke Grübner den Gottesdienst.
Die Kirche in Nienstedten liegt nur wenige hundert Meter Luftlinie vom Elbufer. Wegen des erhalten gebliebenen Charakters einer Dorfkirche gehört die Kirche heute zu den beliebtesten Hochzeitskirchen im Hamburger Westen.
Zwischen 11 und 13 Uhr erreichen Sie die Gemeinde unter dem Hörertelefon: 040 - 8284 55
Predigt nachlesen:
Liebe Gemeinde,
"Fast alle werden dir entgegen sein, man wird dir deine Müh’ und Sorg nicht danken." Haukes Frau Elke wird recht behalten. Hauke geht es mit seinem Deichprojekt wie Mose mit dem Einzug ins gelobte Land. Die Kosten, die Arbeit, der Aufwand stehen im Vordergrund. Und so wie die Menschen damals Mose angegriffen und verteufelt haben, ergeht es Hauke in der Novelle "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm. Hat er nicht vor allem eigennützige Motive? Hat er sich doch das Land, das er eindeichen will, vorher schon zusammengekauft! Durch den Deich soll es nun im Wert steigen! Ole Peters streut böse Gerüchte, an vorderster Stelle.
Gegen den Widerstand der Dorfbewohner gelingt es Hauke Haien, sein Projekt durchzusetzen. Dankbar ist er seinem wichtigsten Fürsprecher: Jewe Manners, der Pate seiner Frau Elke. Jewe ist ein alter weißhaariger Mann von unerschütterlicher Rechtschaffenheit. Weil Hauke ihn darum gebeten hat, ist er noch immer Deichgevollmächtigter. Er genießt großes Ansehen und steht an Haukes Seite. Seine Rede löst letzte Widerstände gegen den Deichbau auf:
‘Deichgraf Hauke Haien’, sprach er, ‘ du machst uns viel Unruhe und Kosten, und ich wollte, du hättest damit gewartet, bis mich der Herrgott hätt zur Ruhe gehen lassen; aber – recht hast du, das kann nur die Unvernunft bestreiten. Wir haben Gott mit jedem Tag zu danken, dass er uns trotz unsrer Trägheit das kostbare Stück Vorland gegen Sturm und Wasserdrang erhalten hat; jetzt aber ist es wohl die elfte Stunde, in der wir selbst die Hand anlegen müssen, es auch nach all unserm Wissen und Können selber uns zu wahren und auf Gottes Langmut weiter nicht zu trotzen. Ich, meine Freunde, bin ein Greis; ich habe Deiche bauen und brechen sehen; aber den Deich, den Hauke Haien nach ihm von Gott verliehener Einsicht projektiert und bei der Herrschaft für euch durchgesetzt hat, den wird niemand von euch Lebenden brechen sehen; und wolltet ihr ihm selbst nicht danken, euere Enkel werden ihm den Ehrenkranz doch einstens nicht versagen können!’
Die Unterstützung von Jewe Manners hilft nicht lange. Zur gleichen Zeit, als das Eindeichungsprojekt die letzten Hürden nimmt, beginnen andere böse Gerüchte. Auf dem Jeverssand liegt seit langem ein altes Pferdegerippe, bei Mondschein glänzt es geheimnisvoll. Nur Tage, nachdem Hauke Haien auf dem Markt einem Unbekannten einen abgemagerten Schimmel abgekauft hat, ist das Gerippe auf dem Jeverssand verschwunden. Haukes Stallbursche hat panische Angst vor dem Pferd. Er meint, das könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, der Teufel müsse hier seine Hand im Spiel gehabt haben. Für ihn hat sich das Gerippe in den Schimmel verwandelt und der Teufel selbst reitet ihn! Der Stalljunge kündigt seine Stellung, tritt bei Ole Peters als Knecht ein und findet hier Zuhörer, die seine Geschichte begierig aufnehmen. Von da an heißt Hauke Haien nur: der Schimmelreiter. Hauke selbst weiß nichts von den unheimlichen Geschichten, die sein früherer Stalljunge erzählt.
Weitere Verleumdungen kommen hinzu. Als Hauke und Elke im neunten Ehejahr doch noch ein Kind bekommen, ist das Glück groß. Doch dann fällt Elke in ein schlimmes Kindbettfieber. In tiefer Verzweiflung betet Hauke für seine Frau - und die Magd hört das Gebet mit:
"Herr, mein Gott, nimm sie mir nicht! Du weißt, ich kann sie nicht entbehren!" "Ich weiß ja wohl, du kannst nicht allezeit, wie du willst, auch du nicht; du bist allweise; du musst nach deiner Weisheit tun - o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!"
Elke übersteht die Krankheit. Doch Haukes Gebet hatte die Magd flugs zu ihrer Versammlung getragen. Hauke Haien habe Gottes Allmacht bestritten, das gibt der fromme Redner als Parole aus. So jemand laste wie ein Stein auf der Gemeinde – Hauke Haien baut einen Deich, der vor Wasser und Flut schützen soll, doch hinter seinem Rücken lösen sich die Dämme des Rechts und der Mitmenschlichkeit auf. Dann stirbt auch noch der Deichgevollmächtigte Jewe Manners, der Hauke unterstützt hatte. An seine Stelle tritt ausgerechnet Ole Peters.
Schließlich steht der Deichbau vor seiner Vollendung. Die schwierigste Aufgabe ist zuletzt, das Stück zu schließen, wo der neue auf den alten Deich trifft. Hauke überwacht die Arbeiten. Da sieht er, wie ein herrenloser Hund auf einmal unten in der Baugrube liegt. Irgendjemand muss ihn hinuntergeworfen haben. Hauke befielt, den Hund heraufzuholen, doch keiner rührt sich. Da klettert er selbst in die Tiefe und holt das Tier herauf.
‘Wer war es?’, rief er. ‘Wer hat die Kreatur hinabgeworfen?’
Einen Augenblick schwieg alles, denn aus dem hageren Gesicht des Deichgrafen sprühte der Zorn, und sie hatten abergläubische Furcht vor ihm. Da trat von einem Fuhrwerk ein stiernackiger Kerl vor ihn hin.
‚Soll Euer Deich sich halten, so muss was Lebiges hinein!’
‘Was Lebiges? Aus welchem Katechismus hast du das gelernt?’
‘Aus keinem, Herr! Das haben unsere Großväter schon gewusst, die sich mit Euch im Christentum wohl messen durften! Ein Kind ist besser noch; wenn das nicht da ist, tut’s auch wohl ein Hund!’
Nachdem der Deich fertig ist, leben Elke und Hauke mit ihrer kleinen Tochter zunehmend isoliert auf dem Deichgrafenhof. Die Gerüchte und üblen Nachreden gehen nicht spurlos an ihnen vorüber. Hauke wird ernsthaft krank. Danach ist er noch lange geschwächt. Ihm fehlt die Kraft, sich mit seinen Widersachern auseinanderzusetzen. Im Sommer bemerkt er, wie am Übergang vom neuen auf den alten Deich der alte Priel sich wieder sein Bett sucht. Obwohl Hauke sich Sorgen macht, nimmt er den Kampf gegen das Wasser nicht auf. Er lässt sich von Ole Peters überreden, nur eine kleine lokale Reparatur durchzuführen.
Im Herbst gibt es eine gewaltige Sturmflut. Der neue Deich hält stand; aber der alte bricht da, wo der Deichgraf es befürchtet hatte. Als die Nacht anbricht, beginnen die Leute im Dorf ihre Häuser zu räumen. Hauke patrouilliert ruhelos auf dem Deich. Er fühlt sich schuldig:
Es schoß ihm heiß zu Herzen, er wusste es nur zu gut – im vorigen Sommer, hätte damals Ole Peters’ böses Maul ihn nicht zurückgehalten - da lag’s! Er allein hatte die Schwäche des alten Deichs erkannt, er hätte trotz alledem das neue Werk betreiben müssen. ‚Herr Gott, ja, ich bekenn es’, rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, ‘ich habe meines Amtes schlecht gewaltet!’
Die Stigmatisierung, die Verleumdungen und üblen Gerüchte, die Elke und Hauke im Dorf so lange zu tragen hatten, hat sie über die Jahre hinweg zermürbt. Elke sitzt zu Hause, ihr Mann steht nachts im tosenden Sturm auf dem Deich:
Wenn das Brüllen des Sturms und das ferne Klatschen des Meeres einen Augenblick aussetzten, fuhr sie wie in Schreck zusammen; ihr war jetzt, als suche alles nur ihn zu verderben, und werde jäh verstummen, wenn es ihn gefasst habe.
Aus Angst, allein zurückzubleiben, setzt Elke sich mit ihrem Kind auf einen Pferdewagen und fährt in die stürmische Nacht ihrem Mann nach. Der irrationale Sturm aus Gerüchten und Verleumdungen war zu lange durch die Gemüter der Dorfbewohner gefegt. Er hatte alle menschlichen Regungen zerfasert und alle Dämme der Menschlichkeit brüchig und löchrig gemacht. Wenigstens mit Hauke und ihrem Kind will Elke zusammen sein – und alle drei kommen in den Fluten um.
Eine düstere Geschichte. Für mich tobt der eigentliche Sturm nicht auf dem Wasser. Lange bevor die Deiche brechen, hat er bereits die Seelen der Menschen verwüstet, der Sturm des Irrationalen richtet soziales Chaos an, indem er Menschen dazu anstiftet, andere zu verleumden, sie missgünstig zu beargwöhnen und böse Gerüchte über sie zu verbreiten.
Von diesem irrationalen Sturm, der soziale Gemeinschaften und Kulturlandschaften zerstören, der die Dämme der Menschlichkeit zum Einsturz bringen kann, davon weiß auch die Bibel. Die Beter der Psalmen leben mitten in der Bedrohung aus einer Gewissheit, die auch heute wahr ist:
"Herr, […] die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig;
der Herr aber ist noch größer in der Höhe.
Dein Wort ist wahrhaftig und gewiss; /Heiligkeit ist die Zierde deines Hauses, Herr, für alle Zeit."
Gottes Wort ist gerecht und schafft Neues. Es ist größer als unser Freund-Feind-Denken. Es ist unverfügbar. Es ist noch größer in der Höhe. Wenn wir uns darauf besinnen, gewinnen wir Abstand von uns selbst. Wir werden frei für das Gute und Gerechte. Wenn der Sturm unsere Gemüter zu verwirren droht, dann sollen wir auf diese Kraft aus der Höhe vertrauen und aus diesem Vertrauen leben und handeln.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.