Evang. Kirchengemeinde Wertheim
„Lass die Tür offen!“
Live-Übertragung aus der Stiftskirche Wertheim
03.12.2023 09:05
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Predigt zum Nachlesen:

I

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“  – offene Türen, Licht, das dahinter einladend hervorleuchtet. Kindheitserinnerungen kommen in mir hoch:  Ich sehe die Wohnzimmertür aus Glas in meinem Elternhaus am Heiligen Abend. Der Weihnachtsbaum dahinter leuchtet schon, mein Bruder und ich warten, dass die Tür zum Weihnachtszimmer endlich aufgeht.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ – heute, am 1. Advent, fängt der Weg dorthin wieder an und ich freue mich darauf. Erst recht, wenn dazu noch der Duft von frischem Tannengrün und der Weihnachtsbäckerei kommt.

Barbara Lotz, eine Ehrenamtliche aus unserer Gemeinde öffnet für uns die Tür in ihre Kindheit:

Ich bin ein Kind der späten fünfziger Jahre. Advent hat sich bei uns zuhause und im Gottesdienst abgespielt.

Der erste Advent wurde feierlich mit dem Entzünden der ersten Kerze besungen, hier und dort gab es ein bisschen Tannenzweigschmuck. Irgendwann hatten wir dann auch einen Adventskalender, und jeden Morgen sind meine beiden Schwestern und ich zum Türchenöffnen gestürzt.

Schokolade vor dem Frühstück! Unfassbar!

Wir haben viel gebastelt.

Wir haben gelernt, Strohhalme zu bügeln, die dann aufgeschnitten und mit dünnem Faden zu komplizierten Gebilden gebunden wurden. Klebstoff? Den gab es damals nicht.

Es war ein ziemlich mühsames Gefussel Das Ergebnis durfte dann am Ende den Tannenbaum daheim schmücken.

Mein Vater hatte eine kleine Werkstatt im Keller, dort hatten wir in der Vorweihnachtszeit keinen Zutritt mehr. Und einmal bekamen meine Schwestern und ich zu Weihnachten jede einen kleinen Puppenschrank! Neue Puppenkleidchen dazu hatte meine Mutter genäht.

 Wichtig war bei uns zuhause das Singen. Mit Klavier- und Flötenbegleitung, am Tisch oder auch zu fünft im Auto bei Ausflügen, mehrstimmig und aus voller Kehle. Beim Singen geht mir heute noch das Herz auf.  

 

II

Ja, der Advent ist eine besondere Zeit. Barbara Lotz aus unserer Gemeinde hat davon erzählt: Herzenstüren sind auf und Werkstattüren sind zu gegangen, weil der Vater hinter verschlossener Tür liebevoll die Weihnachtsgeschenke gezimmert hat.

Solche Erinnerungen sind ein Geschenk. Sie verbinden uns auf eigene Weise mit den Menschen, die für uns da gewesen sind, als wir klein waren. Ein bestimmter Duft oder der Anblick eines Strohsternes führen auch mich zurück an Orte meiner Kindheit - in meinen Kindergarten, in unsere Küche, auf den Adventsbasar in der Kirchengemeinde.

Erinnerungen an besondere Tage und Momente des Miteinanders. Solche Türen der Erinnerung öffne ich gerne. Bei anderen Türen fällt es mir schwerer, sie aufzumachen und durchzugehen. Ich merke, wie ich vor ihnen stehen bleibe und zögere, sie zu durchschreiten.

Yvonne Frenzel-Tafili arbeitet hinter einer solchen Tür. Sie ist Pflegedienstleiterin im Wohnstift Hofgarten, einem großen Altenheim hier bei uns in Wertheim. Dort leben über 100 Menschen, dazu kommen noch die Tagesgäste. Sie werden von 65 Mitarbeiterinnen betreut. Nicht wenige Menschen haben Angst, ein Pflegeheim zu betreten.

Hören wir, wie Yvonne Frenzel-Tafili das Leben hinter diesen Türen wahrnimmt.

Bei uns leben alte und kranke Menschen, schwerst kranke Menschen.

Ja, Leid ist hier allgegenwärtig und wir sehen es jeden Tag. Warum fällt es manchen Menschen schwer, ihre Angehörigen oder Freunde bei uns zu besuchen. Ich glaube, als jüngere Generation bekommt man vorgeführt, wie es einem selbst vielleicht im Alter gehen könnte.

Und das erschreckt dann:

Besucher hören die Rufe und das Wimmern der Menschen und können sie nicht einordnen. Sie wissen nicht oder sind sehr unsicher, wie sie reagieren sollen.

Das macht Angst und darum fällt es vielen schwer, durch diese Türen zu gehen.

Ich möchte Sie einladen, bei einem Besuch im Pflegeheim das zu sehen,

was wir Pflegekräfte sehen:

Wir sehen Leben.

Wir sehen lachende und herzliche Gesichter.

Wir sehen Dankbarkeit, wir sehen Menschen, die vielleicht durch ihren Einzug zu uns

der Einsamkeit entkommen.

Wir sehen Freude am Leben, hören wundervolle Geschichten

und dürfen Teil eines Lebens sein.

Ich liebe meinen Beruf.

Es wird einem hinter diesen Türen so viel Schönes geschenkt.

 

Jesus von Nazareth, das Licht der Welt, hat sich auch gerade hinter solche Türen gewagt, an denen andere lieber vorbei gegangen sind. Er hatte keine Berührungsängste, war neugierig, seinem Gegenüber zugewandt.

Er hat Zachäus, den Zöllner besucht, den die anderen nicht ausstehen konnten.

Er ging ohne Scheu zu Menschen, die krank waren,

mit denen niemand zu tun haben wollte, die am Rande der Gesellschaft standen.

Jesus hatte keine Angst vor einer Begegnung, er hat sich hinter Türen gewagt,

von denen andere nicht einmal die Klinke in die Hand genommen hätten.

Er hat immer wieder neu Hoffnung, Zuversicht und Trost geschenkt– etwas, wonach ich mich und viele Menschen um mich herum auch heute sehnen.

 

Darum habe ich mir für diesen Advent vorgenommen, ein wenig mutiger als sonst im Jahr zu sein – und ich möchte auch Sie dazu ermutigen.

Wie wäre es? Wir machen uns zu Türen auf, bei denen wir mit etwas Herzklopfen davorstehen, bevor wir sie öffnen. Türen, von denen wir wissen, dass hinter ihnen Menschen leben, die sich über einen Besuch von uns freuen:

Türen eines Pflegeheims oder Krankenhauses. Oder ich klopfe – endlich - bei der Nachbarin an, die ich schon lange nicht mehr auf der Straße gesehen habe.

Hinter diesen Türen riecht es vielleicht anders, als wir es gewohnt sind. Es ist nicht so gemütlich wie in den Erinnerungen der Adventsstube unserer Kindheit. Aber wir könnten den Geruch des Evangeliums, die Hoffnung des Advents, ein Licht mitbringen und damit anderen Menschen eine Freude bereiten. Und wenn es kein Besuch wird, dann vielleicht ein paar liebe Zeilen auf einer Karte. Zu meinen inneren Advents-Türen gehört die Erinnerung, wie mein Vater sich an die Weihnachtspost gesetzt hat und mit seinem Füllfederhalter schrieb. Im Grunde keine großen Worte, aber diese eine wichtige Botschaft „Ich denke an Dich!“. Eine Karte, die durch den Briefschlitz in der Tür ihren Weg finden wird. Ein Spalt voller Licht. Eine kleine Freude.

 

III

„Dein‘ Freundlichkeit auch uns erschein.“  Das ist eine Zeile in diesem Lied „Macht hoch die Tür“, die mich anrührt. Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob ich für diese Freundlichkeit in diesen Tagen offen bin.

Ich möchte es so gerne sein. Ich mag die Lichter, die besondere Atmosphäre des Advents gerade hier in der wunderschönen Altstadt von Wertheim rund um unsere Kirche. Die vielen Lichter, das Glitzern und die Musik schaffen es aber nicht zu überblenden, was gerade im Großen wie im Kleinen auf dieser Welt passiert.

Jeden Tag erreichen uns aufs Neue die Nachrichten aus der Ukraine, über anderthalb Jahre herrscht dort jetzt Krieg. Zerbombte Häuser, zerstörte Dörfer, ich will mich nicht daran gewöhnen.

Ich wünsche mir, dass meine, unsere Herzenstür offen bleibt für das Leid und das Elend anderer Menschen und anderer Regionen, auch wenn sie weit entfernt scheinen. Dass wir uns nicht zurückziehen in unsere Erinnerungskämmerlein, in denen es warm und gemütlich ist. Dass wir es aushalten, dass so viele Türen zugestellt und verrammelt sind, dass manche weggebombt wurden und andere uns das grauenvolle Gesicht des organisierten Terrors zeigen. Ich hoffe, dass meine, ja unsere Herzenstüren nicht ein- oder gar festrosten, weil das alles schwer zu ertragen ist.

In den zerstörten Häusern und Wohnungen leben und lebten Menschen wie du und ich. Manche von ihnen sind zu uns geflohen, um hier in Sicherheit zu sein. Was sie erzählen, berührt mich. Da ist Natalja, die jetzt hier bei uns lebt. Sie sorgt sich so um ihren Sohn, der in der Ukraine bleiben musste. Ich spüre ihre Sehnsucht, ihren Jungen endlich wieder in die Arme zu nehmen, ihre Sehnsucht nach Frieden, die auch meine ist.

Seit Oktober kommen Bilder aus Nahost dazu. Sie tun mir weh. Alles ist so verfahren. Dieser unglaubliche Terror der Hamas, die Gewalt, das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza, die unendliche Sorge um die, die die Hamas-Terroristen als Geiseln verschleppt haben. Ein paar Tage herrschte Waffenruhe. Und jetzt? Jetzt geht es weiter.

Mich lassen die Bilder nicht los. Mich berührt das Leid, das ich in den Augen, in der Körperhaltung der Männer, Frauen und Kindern sehe. Ich kann verstehen, wenn Menschen fliehen, um in Frieden zu leben, ihre Heimat verlassen, weil der Hunger sie dazu treibt und sie ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen wollen. Und ich merke, wie mein Herz enger wird, wenn jetzt immer häufiger von der „Festung Europa“ gesprochen wird, die keinen Platz mehr für Flüchtlinge haben will. Es erschreckt mich.

 

In Psalm 24, der unseren heutigen Gottesdienst durchzieht und der auch die Basis für das Lied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ ist, fragt der Psalmbeter:

„Wer darf auf den Berg des Herrn gehen? Wer darf an seiner heiligen Stätte stehen?“

Die Antwort ist eindeutig: „Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist!“

Ich finde, es ist an uns, im Advent, wo immer es möglich ist, Türen zu öffnen oder: offen zu halten, Orte der Begegnung und des Miteinander zu schaffen, anstatt Türen zuzuknallen und sich abzuschotten.

Zum Beispiel werden in unserem Land händeringend Menschen gesucht, die arbeiten.

In unseren Pflegeheimen und Kindertagesstätten, in Firmen hier bei uns vor Ort in Wertheim, 

„Wir benötigen Arbeitskräfte“, hat mir vor kurzem der Vorstand eines hier ansässigen weltmarktführenden Unternehmens gesagt. „Wir sind international tätig und freuen uns über neue Mitarbeiter. Wir bringen ihnen bei, was sie bei uns können müssen, und wir lernen von ihnen. Die aktuelle Migrationspolitik verstehe ich nicht.“

Offen und neugierig sein auf das Leben, an anderen Menschen und ihrer Sicht auf die Welt Interesse zeigen und es auch einmal wagen, durch eine Tür zu gehen, obwohl das eigene Herz dabei pocht.

Das ist eine Grundhaltung, die ich im Evangelium finde. Sie wurde mir in meiner Kindheit und Jugend in Bremerhaven ins Herz geschrieben. Im Advent haben wir dort mit dem Posaunenchor an vielen Orten musiziert, die uns zunächst fremd vorkamen. Bis heute erinnere ich mich an die strahlenden Gesichter der Seniorinnen, der Männer im Obdachlosenheim – der Seeleute aus aller Welt, denen wir am Weihnachtsmorgen zusammen mit der Seemannsmission einen Weihnachtsgruß im Hafen gespielt haben.

In meiner Jugend ist die Berliner Mauer gefallen, und wir haben alle miteinander darüber gejubelt. Endlich wurden im Advent keine Pakete mehr für die Familie meines Großvaters in der DDR gepackt. Wir konnten und haben dann auch zusammen Weihnachten gefeiert. Ich habe gedacht, dass die Welt nun eine andere ist, dass es nie wieder Krieg geben würde, dass ein Zeitalter der Annäherung, des Friedens, des Zusammenwachsens beginnen würde, dass nie wieder Menschen ihre Heimat verlassen müssten, weil es Bomben hagelt. Es war so ein Grundgefühl: Meiner Generation stehen alle Tore offen.

Wenn ich heute meinen Kindern aus der Zeit des Mauerfalls und von dem damals herrschenden „Wind of Change“ erzähle, lachen sie. So wie mein Bruder und ich früher, wenn unser Vater Geschichten von früher erzählt hat. „Ach Mama“, sagen sie dann, „wir wollen davon nichts mehr hören, das Kapitel ist längst vorbei.“

Und jetzt? Jetzt denke ich, werden neue Kapitel mit dunkler Tinte geschrieben.

Aber uns leuchtet eine andere Botschaft entgegen. Sie lädt uns ein, sie in alle Welt auszubreiten: Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe.

Christinnen und Christen glauben: Der König der Ehre ist Jesus Christus, das Licht der Welt.

Seine Botschaft richtet unseren Blick auf die dunklen Seiten des Lebens und der Gesellschaft.

Sie ermutigt uns heute, Jesus auf seinem Weg zu folgen, mit ihm Türen zu durchschreiten. Sein Ruf gilt: Seht her, schaut euch um, was um euch herum passiert.

Hört auf, wegzuschauen oder es kleinzureden.

Benennt das Unrecht, erhebt eure Stimmen für eine Welt, in der es um ein Miteinander geht. Und vor allem: Redet nicht nur!

 

Ja, ich möchte es in diesem Advent 2023 wagen, Türen zu durchschreiten,

Türen zu öffnen, für die, die auf Hilfe angewiesen sind.

Schließlich feiern wir an Weihnachten, dass Gott selbst uns

seine Türen geöffnet hat. In einem kleinen Kind ist er uns entgegengekommen.

Nun liegt es an uns, ihm entgegenzugehen.

 

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Dlf Gottesdienst