Du gehst mit uns durch die Gezeiten

Du gehst mit uns durch die Gezeiten
Gottesdienst-Live-Übertragung aus dem Christian-Jensen-Kolleg in Breklum
01.01.2022 - 10:05
26.11.2021
Pastorin Nora Steen
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Predigt zum Nachlesen
 

Ebbe. Ein schier endloser Blick in die Weite, bis zu den Halligen am Horizont. Sie heißen Nordstrandischmoor, Langeneß, Oland, Gröde, Hoge.

Manche kann man zu Fuß erreichen, manche nur mit dem Schiff, einige mit der eigenen Lore. Loren sind kleine Fahrzeuge, die auf Schienen über lange Dämme fahren, mit denen einige der Halligen mit dem Festland verbunden sind. Jede Halligfamilie besitzt so eine Lore, mit der Gäste, aber auch Einkäufe und Baumaterial auf die Hallig transportiert werden.

Wenn die Loren vom Festland aus Richtung Hallig laut rumpelnd losfahren, dann wirkt das wie aus der Zeit gefallen. Wie kann man so leben, fragen sich viele, die vom Ufer aus staunend zuschauen, besonders die vielen Urlauber aus anderen Teilen Deutschlands. Wie geht das, ein so reduziertes Leben, das so abhängig ist von Wind und Wetter?

Bis zu 30mal im Jahr heißt es auf den Halligen „Land unter“. Dann reduziert sich das Leben nochmal mehr auf die eigene Warft, so heißen die Hügel, auf denen die Häuser der Halligbewohner stehen.

Wer so ausgeliefert an die Naturgewalten lebt, hat einen gut geschulten Blick für die Schöpfung.

 

Der genaue Blick des Beters von Psalm 8 geht in eine ähnliche Richtung. Himmel, Mond und Sterne sind für ihn Zeichen für Gottes Macht. Für eine Schöpfungskraft, der wir Menschen aus uns selbst heraus wenig entgegensetzen können. Und so fragt der Psalmbeter:

 

Was ist der Mensch  mit Blick auf die gewaltige Kraft der Schöpfung?

 

Wie konnte es geschehen, so frage ich mich, dass wir in den westlichen Industrienationen größtenteils tatsächlich davon ausgehen, die Schöpfung in der Hand zu haben? Dass wir es sind, die über den Verlauf von Flussbetten, Regenwäldern oder Mooren bestimmen könnten? Die regelmäßige Erfahrung, die in der Redewendung „Die Natur holt sich alles zurück“ zum Ausdruck kommt, wird dem nur bedingt gerecht.

Es ist ja nicht die Natur, die sich etwas zurückholt. Es sind wir, die in Ökosysteme eingreifen, über die wir nicht die geringste Einflussmöglichkeit haben.

 

Nicht die Natur ist also die häufig nahezu dämonisch wirkende Macht, wenn Flüsse über die Ufer treten und Häuser wegspülen, wenn Stürme Häuser aus Stein wie Kartenhäuser zusammenstürzen lassen.

Unsere Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme haben Folgen. Das merken wir immer häufiger und mit immer tragischeren Folgen. Weltweit.

 

Auch hier am Wattenmeer ist das bereits spürbar. Der gute Ratschlag einer Biologin lautet: „Geht mit euren Kindern und Enkelkindern lieber ins Watt als ins Legoland. Das Legoland wird es noch länger geben als das Wattenmeer.“

 

Worte, die sitzen. Gottes Schöpfung kann sich nicht unendlich regenerieren. Für manches gibt es ein zu spät.

 

Ebbe. Der Meeresboden ist freigelegt. Auf einem Quadratmeter Wattboden befindet sich mehr lebendige Biomasse als im Urwald. Leben, das sich flexibel alle 6 Stunden auf die neue Umgebung einstellt. Wunder der Schöpfung.

 

All das und viel mehr hat Gott uns anvertraut.

„Die Vögel am Himmel und die Fische im Wasser

und was sonst die Meere durchzieht.“

 

Demut vor der Schönheit und Kraft der Natur ist eine zutiefst christliche Grundhaltung. Sie bedeutet nicht, dass wir uns kleinmachen müssen, im Gegenteil.

Demut als Haltung, die uns befähigt, unser Leben als Geschenk anzunehmen und nicht sich selbst zum Maßstab aller Dinge zu machen, macht uns zu aufrechten Menschen. Im Blick auf die uns umgebende Natur können wir das gut üben und das Staunen neu lernen. Die Schöpfung ist uns von Gott geschenkt. Nicht, damit wir sie so umgestalten, damit sie uns gefügig gemacht wird, sondern, dass wir an ihr das Staunen über die Schönheit der Welt neu lernen.

 

Wenn die Flut kommt, dann ändert sich die Stimmung hier an der Nordsee. Wattwanderinnen, die sich weit raus gewagt haben, kommen schleunigst zurück. Wir wissen, wie häufig die Macht der Flut unterschätzt wird. Dieses harmlos wirkende auflaufende Wasser hat eine Kraft, gegen die wir Menschen nichts setzen können. Wasser schwemmt Menschen, Häuser, Autos wie Spielzeug davon. Die entsetzlichen Bilder aus dem Ahrtal im vergangenen Jahr sind uns alle noch in Erinnerung.

 

Wir Menschen, die Krone der Schöpfung?

Der Psalmbeter spricht davon, dass wir kaum geringer als Gott geschaffen sind. Diese und ähnliche Aussagen haben immer wieder zu fatalen Missverständnissen geführt. Als wäre der Mensch der Maßstab allen Handelns, der von Gott das Recht zugesprochen bekommen habe, die Welt nach seinem Bild zu formen.

 

Ein genauerer Blick in Psalm 8 zeigt, was bei dieser Interpretation vergessen worden ist: Das Lob über die Größe des Menschen ist untrennbar verbunden mit dem Lob Gottes. Und das Lob Gottes korrigiert meinen um mich selbst kreisenden Blick, der mich selbst in den Mittelpunkt meines eigenen Universums stellt.

Gott zu loben, bedeutet: Ich schaue von mir weg auf meine Mitgeschöpfe. Auf Menschen, Pflanzen und Tiere. Ich staune über die Schönheit der Schöpfung.

 

Um den Psalm selbst zu Wort kommen zu lassen:

 

Schaue ich hinauf zum Himmel,

staune ich über das Werk deiner Hände.

Betrachte ich den Mond und die Sterne,

die du dort oben befestigt hast, so frage ich:

Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst,

das Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?

 

Die Flut ist eine Zeit der Fülle. Des Genießens.

Im Sommer richten sich die Badezeiten der Menschen hier oben nach dem Gezeitenkalender. Mal geht es morgens, mal nachmittags, mal abends an den Deich, um im angenehm warmen Nordseewasser eine  Runde zu drehen.

Die Gezeiten bestimmen die Tagesplanung vieler Nordfriesen. Staunen gehört zum Alltag. Denn jeden Tag erwartet mich ein anderes Himmelsbild über dem Meer und Flut ist nicht gleich Flut.

 

Gottes Geschenke an mich genießen zu können bedeutet also auch, dass ich mich nach Gottes Gezeitenkalender zu richten habe. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“, betet Jesus im Garten Gethsemane. Er ist voller Angst. Er weiß, was mit ihm geschehen wird. Gleich werden sie kommen und ihn verhaften. Aber er läuft nicht weg. Er gibt sich ganz in Gottes Hand. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“.

 

Diese Grundhaltung ist unserem heutigen Freiheitsbedürfnis fremd. Die Dinge sollen laufen, wie ich es will. Ich will bestimmen. Über Zeit, Raum – und Ewigkeit?

 

Aber ist das aufrechtzuerhalten, wenn auch den nachfolgenden Generationen ein lebenswertes Leben auf diesem Planeten möglich sein soll?

 

Nein. Freiheit endet immer dort, wo ich mit meinem Freiheitsdrang andere Geschöpfe an einem guten Leben behindere. Freiheit gibt es also nie ohne die Verantwortung für die Gesamtheit der Schöpfung. Das haben die jungen Menschen, die sich in der Bewegung Fridays for Future engagieren, viel besser erkannt als wir Älteren.

 

„Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“

Mich selbst in die zweite Reihe stellen und Gott Gott sein lassen. Seine Gezeiten hinnehmen. Annehmen. Im Vertrauen, dass Gott es gut meint mit mir.

Mit dieser Welt.

Dieser Gedanke scheint heute anachronistisch zu sein.

Dennoch.

Ich möchte ihn heute stark machen, am Neujahrstag 2022. Vertrauen wagen. Darum muss es gehen im vor uns liegenden Jahr.

 

Gott loben und mich selbst ernstnehmen als sein Geschöpf, das unendlich viel anvertraut bekommen hat. Der Psalmbeter sagt: „Das Werk deiner Hände hast du dem Menschen anvertraut“.

 

Was für ein unendliches Vertrauen Gott in uns hat! Dass wir es gut machen. Dass wir seine Schöpfung bewahren und nicht weiter kaputt machen, weil wir es nicht einsehen an unserem auf Konsum und Wachstum orientierten Lebensstil etwas zu verändern.

 

Wechselseitiges Vertrauen, darum geht es in Psalm  8. Gott vertraut uns Menschen, wir vertrauen Gott. Gott lobt den Menschen, wir loben Gott.

 

Wie steht es um Vertrauen in unserer Gesellschaft? Mein Eindruck ist: nicht gut. Viel ist in den langen Pandemiemonaten kaputt gegangen. Die Fronten sind verhärtet und ziehen sich manchmal auch durch Familien oder Freundeskreise. Wie viel Freiheitseinschränkung ist uns zuzumuten, wieviel Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft darf zur Handlungsgrundlage werden?

Die Frage des Impfens ist zu einer regelrechten Glaubensfrage geworden, über die kaum mehr diskutiert werden kann, wenn die Meinungen weit auseinander gehen.

 

Wie aber kann das gehen, Vertrauen zurückzugewinnen, damit unsere Gesellschaft auch von innen irgendwann heilen kann?

Erst einmal: Das ist ein langer Weg. Aber, er ist es wert, ihn zu gehen, auch wenn er Zeit braucht. Es wird ein Weg der Versöhnung sein. Und Versöhnung braucht Raum, damit wir einander unsere Geschichten erzählen können. Versöhnung braucht Raum für Tränen, für Umarmungen, für klärende Worte.

 

Gott vertraut uns, dass wir das schaffen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

26.11.2021
Pastorin Nora Steen