Sehnsucht nach dem Lied des Lebens

Evangelischer Rundfunkgottesdienst

Klosterkirche St. Maria (Kloster Zinna) in Jüterbog

Sehnsucht nach dem Lied des Lebens
Rundfunkgottesdienst aus der Klosterkirche St. Maria (Kloster Zinna) in Jüterbog
10.05.2020 - 10:05
28.02.2020
Pfarrerin Andrea Richter
Über die Sendung

Singen verboten! Die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona machen das Land stiller – und um manches Lied ärmer. Denn: wo keine Feste gefeiert werden, gibt es keine Musik. Chöre dürfen nicht mehr proben. Gottesdienste mit Gemeinde sind zwar wieder in kleiner Besetzung erlaubt, doch bis auf weiteres ohne Gemeindegesang. Zu hoch ist die Gefahr der Ansteckung.

Was fehlt, zeigt der Ausnahmezustand: Sehnsucht hält die Leerstelle offen. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Musik und Fröhlichkeit, die geteilt werden darf. In der Klosterkirche Zinna erklingen - mit gebührendem Abstand - Stimmen der Sehnsucht und Hoffnung. Darauf, dass Gott Menschen verbindet und auch durch diese Zeit trägt.       

Es singt das Ensemble Vox Nostra (Leitung Burkard Wehner), an der Orgel spielen Peter Michael Seifried & Andreas Behrendt, E-Gitarre: Kalle Kalima. Die Predigt hält Pfarrerin Andrea Richter, Beauftragte für Spiritualität in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Liturgie: Pfarrer Tilman Wiarda.

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen

In Jerusalem ist es ungewöhnlich still in diesen Tagen. Wie an vielen Orten auf der Welt. Und gerade hier fällt es besonders auf, wenn weniger Menschen durch die Gassen drängen. Weniger gelacht, gebetet, gesungen, geschrien wird in den Straßen der Altstadt. Denn Jerusalem war und ist ein religiöses Zentrum.

Der Tempel in Jerusalem galt als das Zentrum der Welt. Die Mitte der Mitte. Der Tempel war ein Ort der Begegnung und des sozialen Austausches – alle kamen hier zu den großen Wallfahrtsfesten zusammen – Juden und Heiden.

Und natürlich wurde dabei Musik gemacht! Chöre, Posaunen, Trommeln, Zimbeln, das ganze Orchester, die ganze Musikwelt der Antike!

Die ganze Stadt voller Farben, Düfte, und Gesang….

Gerade jetzt zu Ostern haben wir so ein Zusammenkommen und Feiern so sehr vermisst, Zusammensein und feiern in den Kirchen, Osterfeuer auf den großen Plätzen, vor allem die Musik, das Singen im Chor, das Sitzen in den Cafés – eben das Fest! Und genauso haben Juden das gewohnte Feiern zu Pessach vermisst. Vermissen Muslime das Zusammenkommen im Ramadan.

Ja, klar, in den Parks, auf den Promenaden und in den Gärten sind wir auch dieses Jahr zusammengekommen – aber doch meistens auf der Hut nach zu viel Nähe. Gesichter hinterm Mundschutz verborgen. Vorsicht, Abstand halten, wo man sich viel lieber anfassen würde.

So spüren wir oft Sehnsucht in diesen Tagen. Die Sehnsucht nach dem Lied des Lebens sitzt tief im verankert in den Kammern des Herzens.

Alles beginnt mit der Sehnsucht, sagt die Dichterin Nelly Sachs. Sehnsucht hat auch was Gutes. Sehnsucht muss sein, wenn sich etwas ändern soll – und muss – das merken wir ja jetzt alle in dieser Krise.

Sehnsucht hält die Leerstelle offen: Sie sagt: Achtung, da fehlt etwas, da gehört noch etwas hin, das jetzt nicht zu haben ist. Etwas, das so nicht zu haben ist.

Aber zurück nach Jerusalem – zur Mitte der Welt:

Das Fest, von dem unser Predigttext erzählt, ist das Fest der Einweihung des Tempels.

Der Tempel, die Wohnung Gottes! Das „Haus“, das der König Salomo für den Einen Gott, für Adonai, den HERRN hat bauen lassen. Ein Ort pulsierenden Lebens, wie das schlagende Herz eines Organismus!

Hierher wird die Lade des Bundes mit den 10 göttlichen Lebensworten, den 10 Regeln oder „Geboten“ gebracht, damit das Zusammenleben der Menschen untereinander gut gelingen kann.

Du sollst Gott liebhaben – von ganzem Herzen, mit all deinem Vermögen, mit deinen Kräften, und deinen Nächsten wie dich selbst. Morde nicht! Schütze das Leben, wo du es erblickst. Verschwöre dich nicht gegen andere. Bereichere dich nicht an ihrem Besitz. Zerstöre nicht die Beziehung deiner Mitmenschen. All diese hilfreichen Regeln auf zwei steinernen Tafeln….

Die sollen nun im innersten Raum des Tempels, im Allerheiligsten – im Zentrum des Zentrums - ihren Ort finden. Sie sollen buchstäblich verinnerlicht werden. Hier im Tempel – und in den Herzen der Menschen!

Zwei Cherubim schützen die Lade mit den beiden Tafeln. Im Israelmuseum in Jerusalem gibt es Darstellungen von den beiden Engelswesen, mit riesigen Schwingen, die sie über die Stätte der Lade ausbreiten. Diese goldenen geflügelten Wesen sind einander zugewandt – vis a vis – von Angesicht zu Angesicht…

In ganz intimer, fast erotischer Haltung. Es heißt: So sollten sie symbolisieren, wie Gott und Mensch zueinander stehen können: einander zugewandt – wie ein liebendes Menschenpaar. So scheinen die Cherubim uns zuzurufen: „Eure Liebe zu Gott sei wie die Liebe zweier Menschen: einander innig zugetan – ausschließlich - unverbrüchlich!“

Gott sehnt sich nach dieser Zu-Wendung des Menschen!

Zu dieser Szene im Allerheiligsten - wie hinter der großen Leinwand im Kino – erklingt eine fantastische Musik wie zum Happy End – mit großem Orchester, Harfen, Geigen….

Musik, die die großen Gefühle erst richtig zum Ausdruck bringt.

Da, wo Worte fehlen, spricht die Musik. Musik sagt mehr als tausend Worte.

Damals im Tempel und bis heute im Gottesdienst hat Musik solch große Bedeutung. Sie rührt unsere Seele an. Sie lockt uns weg vom ewigen Denken und Grübeln. Sie hat die Gabe, uns mit uns selbst - mit unserer inneren Mitte – in Verbindung zu bringen.

Diese Kraft der Musik begleitet auch jetzt in Corona-Zeiten unzählige Menschen durch die Krise – sie hat Karfreitag nicht nur Christen in die Online-Aufführung der Johannespassion in Leipzig gelockt.

Und damals in Jerusalem? Wie stellen wir uns die Musik zu diesem grandiosen Ereignis des Tempelfestes vor? Die Bibel bringt den Text zum Klingen – wir hören: Ein Innehalten, eine Stille, ein Atemholen… und dann…:

Einstimmigkeit! „Und es war als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem HERRN!“ (V.13)

„Er ist gütig und seine Barmherzigkeit währt ewig!“ singen die Tausenden.

Und dann ist da mit einem Mal auch etwas zu sehen - und plötzlich beinahe mit Händen zu greifen: die Präsenz, die Gegenwart Gottes - sichtbar als eine Wolke, die das Haus erfüllt. Was für ein Augenblick!

Man möchte sagen: „Verweile doch, du bist so schön!“

Solche Glücksmomente vergisst man nicht:

Wie der Blick auf dem Gipfel eines Berges nach einem langen Aufstieg,

oder wenn ich im Weizenfeld auf dem Rücken liege und den Himmel anschaue,

oder die Schmetterlinge im Bauch bei der ersten großen Liebe,

oder ein Klang hier in dieser Klosterkirche, der mein Herz berührt

Alles war da im Ein-Klang! Am liebsten möchte man das festhalten.

Solche Momente sind selten. Der Tempel in Jerusalem steht nicht mehr. Die Welt ist uneins! Auch Mensch und Schöpfung sind längst schon nicht mehr im Einklang.

Die Einschränkung unseres äußeren Radius hat uns geradezu nach Innen gezwungen. In unser eigenes Zentrum. In die Mitte.

Zum Hinschauen, was da ist!

Eine Freundin schrieb in einer Mail: „Diese ganz besondere Osterzeit habe ich intensiv erlebt. Durch den Wegfall vieler Treffen und Termine ist mehr Zeit um in Ruhe zu lesen und zu meditieren.

Obwohl es viele schlimme Nachrichten gibt, fasziniert mich der Geist der Kreativität und unkonventionellen Lösungen, der vielerorts hervorkommt. Jeder sucht neue Wege, wie man Verbundenheit zeigen und Unterstützung leisten kann … In dieser Zeit spüre ich, dass Gott uns in seine Nähe zieht und uns den Raum dafür gibt; es gibt den Wunsch nach mehr Gemeinschaft mit Gott und miteinander, um die Fragen der Zeit zu bewegen und auf Gott zu hören.“

Das spricht mir aus dem Herzen!

Für solche Erfahrungen braucht es wohl die „Leerstelle“, die offenbleibt!

Um es in der Musiksprache auszudrücken: ohne die Stille, ohne die Pause zwischen den Tönen, kann sich kein Ton bilden, keine Emotion formen; ohne Zäsur und ohne das Atmen kann sich keine Melodie entfalten….

Ich glaube, dass das auch für die Weltgemeinschaft gilt: ohne kollektives Luftholen wird es niemals eine Einstimmigkeit geben – ohne die Verständigung auf ein gemeinsames Tempo und einen gemeinsamen Rhythmus wird immer jemand dazwischen singen. Ohne das Aufeinander Achten treiben wir unsere Mutter Erde dem Kollaps entgegen. Eine Einstimmigkeit wird es nicht geben, wenn in den Flüchtlingslagern zurück gelassene Kinder weinen. So ist es heute.

Und damals? Die Einstimmigkeit im Tempel zu Jerusalem rührte daher, dass die Leerstelle, das Allerheiligste solange leer blieb, bis der Eine Gott in sie eingezogen war.

Die überlieferte Erzählung vom Einklang im Tempel hat nachgewirkt.

Da sagt Jesus zu seinen Jüngerinnen und Jüngern: „Ich und der Vater sind eins – und auch ihr sollt eins sein!“. Das ist – in der Traditionslinie des ersten Testamentes gelesen, eine Einladung, sich im Innern, im „Inneren Tempel“, der ja jede und jeder von uns auch ist: sich da zu öffnen und die Gegenwart Gottes wahr zu nehmen. Erst von daher wird mein Leben stimmig, komme ich – trotz manch bleibender Dissonanzen – mit mir selbst in einen tiefen Einklang. So, als hätte ich den Grundton wiedergefunden, auf den die Melodie meines Lebens gründet.

Hier in dieser Klosterkirche lässt er sich finden - dieser Ton. Im gemeinsamen Hören und Beten und Singen mit Ihnen – auch über die Distanz. Das Lied des Lebens schweigt nicht in dieser Zeit. Gerade jetzt ist es besonders gut hörbar. Es verbindet uns. Es trägt uns durch diese Zeit.

Amen.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

28.02.2020
Pfarrerin Andrea Richter