Predigt zum Nachlesen
„Dann bis demnächst, in welcher Form auch immer“. So oder so ähnlich enden in den letzten Wochen viele meiner Gespräche. Meist verbunden mit dem Wunsch, dass wir uns bald einmal wieder „richtig“ sehen, ohne Maske vor dem Gesicht, ohne peinlich genau auf zwei Meter Abstand zu achten. Seit Mitte März habe ich das Gefühl, in einer komischen Zwischenzeit zu leben. Wir planen von einer Verordnung zur nächsten. Ich finde das anstrengend. Auch, weil ich tief im Innern ahne: So ist das Leben doch sowieso, auch, wenn gerade keine Pandemie ist. Wir gestalten das Leben, so gut es geht, in den Zeiten dazwischen. Versuchen, ein Stück Heimat zu finden und auszuatmen, zwischen den großen und kleineren Veränderungen, die alles auf den Kopf stellen und wieder einen neuen Lebensabschnitt einläuten. Und ein Zurück gibt es eigentlich nie. Wie gesagt, ich finde das anstrengend. Sehr.
Deswegen bin ich froh über diesen Feiertag heute, über Himmelfahrt. Diese Atempause für Menschen, die zwischen den Zeiten unterwegs sind. Ich habe große Sympathie für die Jüngerinnen und Jünger. Ich sehe sie vor mir, wie sie da auf dem Ölberg stehen, die Köpfe im Nacken und den Blick auf die Wolkendecke geheftet. Die Augen zusammengekniffen auf der Suche nach irgendeinem Detail, das ihnen hilft zu verstehen, was da gerade passiert ist. Ich bin froh, dass es denen nicht anders geht als mir manchmal. Ich bin auch dankbar für die beiden Männer, die da aus dem Nichts erscheinen und ihnen zurufen: „Was steht ihr da und guckt in den Himmel?“ Weil ich das manchmal auch brauche, dass mich jemand aus meiner Grübelei herausreißt, wenn ich wie gebannt auf das blicke, was gerade vorbeigegangen ist.
Und ich bin dankbar für den Predigttext für heute. Weil ich im Geist noch mit den Jüngern auf dem Ölberg stehe und staune und rätsele. Er lenkt den Blick wieder auf die Erde, nimmt uns zurück in die unmittelbare Zeit vor den tumultartigen Ereignissen der letzten Wochen. Karfreitag war noch nicht, Ostern war auch noch nicht, aber die Zeichen stehen schon auf Veränderung. Bald wird alles anders werden. Ich lese aus dem 17. Kapitel des Johannesevangeliums. Jesus betet:
„Ich bete nicht nur für die Jünger, die hier anwesend sind. Ich bete auch für alle, die durch ihr Wort zum Glauben an mich kommen. Der Glaube soll sie zusammenhalten – so wie du, Vater, in mir gegenwärtig bist, und ich in dir. Der Glaube fügt sie zusammen. Dann kann diese Welt zum Glauben kommen, dass du mich gesandt hast. Ich habe ihnen die Herrlichkeit verliehen, die du mir geschenkt hast. Die Herrlichkeit soll sie zusammenhalten, so wie auch wir untrennbar eins sind. Ich bin in ihnen gegenwärtig und du in mir. Sie sollen untrennbar zusammengehören. Daran soll diese Welt erkennen: Du hast mich gesandt, und du liebst sie, so wie du mich liebst. Vater, du hast sie mir anvertraut. Ich will, dass sie mit mir dort sein können, wo ich dann bin. Sie sollen mich in meiner Herrlichkeit sehen, die du mir geschenkt hast. Denn du hast mich schon geliebt, bevor diese Welt geschaffen wurde. Gerechter Vater, diese Welt hat dich nicht erkannt. Aber ich kenne dich, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Ich habe dich ihnen verkündet und werde es weiter tun. Die Liebe, die du mir geschenkt hast, soll auch sie erfüllen. So werde ich in ihnen gegenwärtig sein.“
Liebe Gemeinde,
wir haben gerade vor der Musik Jesus zugehört, wie er kurz vor seinem Abschied für seine Freundinnen und Freunde betet. Ich habe beim ersten Hören nicht alles verstanden, nicht alles aufnehmen können. Aber das macht mir im Moment gar nichts aus. Mir reicht erst einmal das Bild, wie Jesus dasteht und betet. Dass er das auch tut. Das, was ich jeden Tag tue. Oder zumindest versuche. Manchmal fällt mir das leicht. Aber oft auch ziemlich schwer. Und zwischendrin frage ich mich: Wozu eigentlich? Gerade in diesen Zeiten „dazwischen“, wenn ich nicht weiß, wohin der Weg führt und wofür ich eigentlich beten soll. Dann helfen mir diese Bilder von Jesus, der betet. Im Kreis seiner Freunde, nachts in Gethsemane, beim Essen, am Kreuz.
Diese Bilder allein geben mir keine unmittelbare Antwort auf die Frage, was sich dadurch jetzt eigentlich ändert. Aber ich kann mich daran festhalten, sie mir zu Herzen nehmen. Sie helfen mir, am Ball zu bleiben. Zu akzeptieren: Wenn zwischendurch die Worte nur zögernd aus meinem Mund bröckeln, wenn ich das Gefühl habe, dass meine Gebete ungehört zu Boden fallen, wenn ich manchmal nicht so ganz bei der Sache bin – dann tue ich in dieser Zeit wenigstens etwas, das Jesus auch tut. Andauernd. Und dann kann es so verkehrt nicht sein.
Dieses Gebet von Jesus war ziemlich lang. Ich habe längst nicht alles behalten beim ersten Hören. Aber in diesem langen Text sind einzelne Worte und Satzfetzen aufgeblitzt, sind in meinem Herzen hängengeblieben und klingen nach. „Zusammenhalten“ gehört dazu. „Untrennbar eins.“ „Ich bin in ihnen gegenwärtig“ Und: „Herrlichkeit.“ Das sind Worte, die Gefühle in mir wecken: Ich bin nicht allein. Auch, wenn ich mich in diesen Tagen manchmal einsamer fühle als jemals zuvor, auch, wenn ich mich abgeschnitten fühle von den Menschen um mich herum. Ich höre die Worte und spüre eine Hand auf meiner Schulter, erlebe einen kurzen Blickkontakt über Schutzmasken hinweg, der mir sagt: „Ich sehe dich.“ Die Worte wecken Bilder. Von strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen. Und sie lassen Erinnerungen an die letzten Wochen aufleuchten, an diese komische Zwischenzeit, in denen ich erlebt habe: Zusammenhalt, Gemeinschaft, Herrlichkeit – all das gibt es auch in Zeiten von Lockdown und Abstandsgeboten, wenn wir unterwegs sind zwischen einem Alltag, den es nicht mehr gibt, und einer Zukunft, von der niemand weiß, wie sie aussieht.
Auf meinem Schreibtisch liegt eine Postkarte von jemandem, den ich gar nicht kenne, aber der sich überschwänglich bedankt für den Einkaufsdienst in der Gemeinde.
Eine E-Mail habe ich mir ausgedruckt. Sie stammt von einer Mutter aus der Gemeinde, deren Kinder bei uns in den Kindergottesdienst gehen. Sie schreibt begeistert von dem Gottesdienst, den sie nach einer Vorlage zuhause am Küchentisch gefeiert haben. Und darüber, wie stolz ihr Siebenjähriger war, weil er am Ende den Segen gesprochen hat. Ganz allein. Und auswendig.
Und ich erinnere mich an die vielen Gespräche mit Menschen, denen diese Begeisterung vergangen ist. Da ist zum Beispiel der selbständige Ingenieur. Er erzählt davon, wie ihm alle Aufträge weggebrochen sind, von einem Tag auf den anderen. Ein bisschen Soforthilfe konnte er in Anspruch nehmen, langsam kommt das Geschäft wieder in Gang, fürs erste, aber seine Ersparnisse sind aufgebraucht. Er erinnert mich daran, dass noch viel zu tun ist. Dass die Zwischenzeit nicht ewig dauern darf. Am Ende des Gesprächs sagt er: „Es tut gut, mit jemandem mal darüber zu reden.“
Ein Satz aus dem Gebet von Jesus klingt noch besonders nach, in den Ohren, im Herzen. Weil sie mich tief berührt haben. Jesus sagt: Ich bete nicht nur für die Jünger, die hier anwesend sind. Ich bete auch für alle, die durch ihr Wort zum Glauben an mich kommen. Und irgendwann, beim zweiten oder dritten Lesen, habe ich verstanden: Da bin auch ich mit gemeint. Jesus betet für mich. Und für alle anderen, die zwischen den Zeiten unterwegs sind. Für den Ingenieur aus meiner Gemeinde. Für die alte Frau, die manchmal abends weint, weil sie ihre Enkel vermisst und kein Internet kann. Für den Mann aus Iran, der die ganzen Nachrichten und Informationen nicht versteht und nicht weiß, was er jetzt tun soll. Und Jesus für Sie, die Sie jetzt gerade am Radio zuhören.
Es sind seltsame Zwischenzeiten, in denen wir unterwegs sind, Sie und ich. Nicht nur wegen Corona. Auch sonst. Wir leben unser Leben mit seinen Höhe- und Tiefpunkten, und versuchen, in der Zwischenzeit das Beste draus zu machen. Wir sind unterwegs, und bleiben es auch nach Corona. Zwischen Glauben und Verzweifeln, Strahlen und Stirnrunzeln. Zwischen der Himmelfahrt Christi und einem Wiedersehen in der Welt, die kommt.
Und Jesus betet. Er hört nicht auf damit. Und der Feiertag heute, diese Atempause für Menschen zwischen den Zeiten, hilft mir dabei, mich daran zu erinnern. Mit alten Worten ganz pragmatisch gefragt: „Was nützt dir die Himmelfahrt Christi?“ Und ebenso pragmatisch gesagt: „Er ist im Himmel vor dem Angesicht seines Vaters unser Fürsprecher.“
Das macht mir Mut, nicht stehen zu bleiben und auf das zu starren, was vorbeigegangen ist. Sondern weiterzugehen, mein Leben in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Ich blicke noch einmal nach oben, ein letzter Blick Richtung Himmel, bevor der Alltag mich wieder gefangen nimmt. Ich sehe nichts außer ein paar Wolken. Aber ich weiß: Da oben reden sie über uns. Unablässig. Und es ist gut.
Dann bis demnächst, in welcher Form auch immer.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.