"Umkehr zum Frieden"

Evangelischer Rundfunkgottesdienst

St.-Martin-Kirche Lübeck

"Umkehr zum Frieden"
Rundfunkgottesdienst aus Lübeck
08.11.2020 - 10:05
Über die Sendung

 

 

 

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Predigt zum Nachlesen

Wenn ich in unserem Haus in den Keller gehe, dann meist, um etwas aus der Speisekammer zu holen oder etwas dorthin zu bringen. Wenn ich mich in den Regalen umschaue, dann staune ich, was da so alles steht. Backmischungen, Konservendosen, Apfelmus und mehrere Kilogramm verschiedenster Nudeln.

Eine echte Notwendigkeit für diese Reserven gibt es nicht. Der nächste Supermarkt ist fünf Minuten von unserem Haus entfernt. Ich weiß nicht, wie lange wir als Familie brauchen würden, um das alles aufzuessen. Bestimmt eine ganze Weile. Die Bestände an Vorräten schwanken sicherlich ein wenig, aber dass wir nichts im Keller haben – das gibt es nicht. Inzwischen habe ich aber festgestellt: Es geht nicht nur meiner Frau und mir so. Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die so alt sind wie ich, geben viele zu: Ein voller Kühlschrank und eine gut bestückte Speisekammer geben ein sicheres Gefühl. Man weiß ja nie, was passieren könnte.

Viele der Verhaltensweisen, die wir als Erwachsene an den Tag legen, haben ihre Wurzeln in unserer Kindheit. Wenn meine Brüder und ich am Mittagstisch die Nase rümpfen und etwas nicht essen wollten, war das oft der Auslöser für Erzählungen meiner Eltern aus der „schlechten Zeit“. Diese „schlechte Zeit“ war für mich ein feststehender Zeitraum zwischen den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Wirtschaftswunders. „Wir haben ja nichts!“ Dieser Satz fiel dabei unausweichlich. Und bestimmte Geschichten aus ihrer Kindheit erzählten unsere Eltern uns immer wieder: Ohne Schuhe seien sie zur Schule gelaufen, weil sie nur ein Paar besessen hätten – und die mussten geschont werden. Und das schlechte Gewissen für einen heimlichen Löffel Zucker in der Küche, weil sie sich so sehr nach etwas Süßem gesehnt hätten, das war ihnen auch als Erwachsene noch abzuspüren.

Die Erzählungen meiner Eltern aus der „schlechten Zeit“ passten eigentlich nicht in meine Lebenswelt als Kind. Kriegsende und Wiederaufbau waren für mich Geschichten aus einer Welt, die der Fernseher nur in Schwarzweißbildern zeigte. Trotzdem entfalteten sie eine Wirkung auf mich. Später kam noch etwas anderes dazu: Das Gefühl von Schuld und Scham. Die Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg begonnen. Die Verstrickung meiner eigenen Familie war schwer zu durchschauen. Der eine Großvater selbst aktiver Soldat, ein Onkel bei der Waffen-SS, „der schönen schwarzen Uniform wegen“, wie es hieß. In der Schule lernte ich, dass Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten. Sie waren in Konzentrationslagern ermordet worden oder bei Kriegsverbrechen umgebracht. Daneben hörte ich aber auch Sätze wie „es war nicht alles schlecht damals“ und hatte große Schwierigkeiten, damit umzugehen.

Eine ganze Reihe von Büchern ist in den vergangenen Jahren erschienen, die sich mit solchen Phänomenen beschäftigen. Sie beschreiben die Besonderheiten der Generation der „Kriegskinder“, aber auch der „Kriegsenkel“. Die traumatischen Erfahrungen von Kindern im Zweiten Weltkrieg oder auf der Flucht, etwa aus Ostpreußen oder Pommern, haben tiefe Spuren in ihrer Vorstellung von der Welt hinterlassen. Und sie haben sich ausgewirkt auf die Art, wie sie selbst ihre Kinder großgezogen haben.

Wenn ich genau hinschaue, entdecke ich Spuren solcher Erfahrungen auch noch in dem, was ich an meine eigenen Kinder mitgebe. Erfahrungen - nicht nur aus der Generation meiner Eltern, sondern auch meine eigenen aus der Zeit des „Kalten Krieges“, in der ich groß geworden bin. Die Bilder, die wir in unserer Kindheit sammeln, prägen uns. Diese Erfahrungen sind tief in uns verankert. Aber sie sind auch schwer zu fassen und nehmen sehr subtil Einfluss auf unser Verhalten. Nicht alle Kriegskinder haben von ihren Erfahrungen und Erinnerungen erzählt. Sie haben ihre Ängste in die tiefsten Schubladen ihrer Seelen gesteckt. Bei manchen sind diese Ängste im Alter wiedergekommen. Das, was ihre Welt als Kind erschüttert hat, begegnet ihnen nach wie vor: Erfahrungen von Unsicherheit und Angst, von Verlassenwerden oder Verlorensein. Denn die Wunden, die Kinderseelen in Kriegen zugefügt werden, heilen nie.

 

Das Buch des Propheten Ezechiel ist in einer Zeit entstanden, die für das Volk Israel traumatisch war. Möglicherweise war er selbst Kind oder Jugendlicher, als seine Familie im 6. Jahrhundert vor Christus nach Babylon verschleppt oder zwangsumgesiedelt wurde. Mich beeindruckt: Schon vor zweitausendfünfhundert Jahren scheint er gewusst zu haben, dass traumatische Erfahrungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können: „Das Wort des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden‘? (Ez 18,1) Die Fehler der Eltern wirken sich aus auf das Leben ihrer Kinder. Generationen löffeln gemeinsam die Suppe aus, die ihnen andere vor ihnen eingebrockt haben.

Die Verschleppung ins babylonische Exil war nicht nur für den Propheten Ezechiel eine prägende Erfahrung. Sie hat ihre Spuren auch in vielen anderen biblischen Texten hinterlassen. Wir finden sie mal unterschwellig und mal deutlich hervorgehoben in Psalmen und Erzählungen wieder. Sie veränderte den Blick auf die eigene Gottesbeziehung für eine ganze Kultur.

Ezechiel bleibt nicht bei der Beobachtung stehen, dass Traumata von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden – das allein wäre schon bemerkenswert genug. Aber Ezechiel geht noch weiter: „So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Eltern gehören mir so gut wie die Kinder“ (Ez 18,3)

Für den Propheten gibt es kein „das war schon immer so“. Kinder können an den Fehlern ihrer Eltern nichts ändern, sie nicht ungeschehen machen oder etwas wieder gut werden lassen. Jeder Einzelne verantwortet das eigene Tun und Lassen vor Gott. Ezechiel liegt daran, dass wir nicht unreflektiert die Verletzungen unserer Eltern in unser eigenes Leben übernehmen und fortführen. Er geht dabei sogar so weit, die Aufmerksamkeit auf eine Redensart zu lenken: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden‘. Ezechiel macht deutlich: Sprache formt das Bild von der Welt, die uns umgibt.

Diese uralte Beobachtung des Propheten ist bis heute aktuell: Sprache kann Selbstrechtfertigungen und Lebenslügen einer Elterngeneration auf ihre Kinder übertragen. Wir müssen achtsam mit ihr umgehen, um die gleichen Fehler nicht immer wieder machen zu müssen. Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, sind nicht Gottes Wille. Wir müssen uns bemühen, in unserer Zeit das Richtige zu tun und geschehenes Unrecht so gut wie möglich auszugleichen. Aber was wir nicht heilen können, das dürfen wir in Gottes Hand legen. Schuld und Scham für die Fehler oder sogar Verbrechen der Elterngeneration lähmen uns und helfen nicht weiter. Die Verantwortung für das, was danach geschieht, können wir besser übernehmen, wenn wir gerade ohne Scham darüber sprechen.

Vielleicht ist das leichter gesagt als getan. Aber wir können immer wieder Schritte in die richtige Richtung gehen. Wir müssen über unsere Erfahrungen und Prägungen reden und versuchen, sie zu ergründen. So können sich Chancen ergeben, eine Kette von Leidenserfahrungen irgendwann einmal zu durchbrechen.

Ob ich mich eines Tages auch mit weniger Nudeln im Keller sicher fühlen kann, weiß ich nicht. Aber ich kann Verantwortung für das übernehmen, was ich aus meinem Leben an meine Kinder weitergebe. Wertschätzung. Die Freiheit, mein Denken und Handeln in Frage zu stellen und die Offenheit, auch über schwierige Dinge in der eigenen Familiengeschichte zu sprechen.

Amen.