Evangelischer Rundfunkgottesdienst
St. Matthäus München
Zu Gott kommen
Rundfunkgottesdienst aus St. Matthäus München
10.04.2020 10:05
Predigt zum Nachlesen

„Gott ist bei mir, auch im Leiden, auch im Tod“.

In diesem Vertrauen hat Dietrich Bonhoeffer gelebt. Seinem Freund George Bell, dem Bischof von Chichester, lässt er ausrichten:

„Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende ist, aber auch der Beginn. Mit ihm glaube ich an den Grundsatz unseres universalen christlichen Geschwisterschaft, die sich über alle nationalen Hassgefühle erhebt, und daran, dass unser Sieg gewiss ist.“

Ökumenische Weite, Gewissheit im Glauben, geistige Unabhängigkeit. Was hat Dietrich Bonhoeffer zu einer solchen Persönlichkeit gemacht?

 

Die Familie prägt ihn fürs Leben. Am 4. Februar 1906 wird er zusammen mit seiner Zwillingsschwester Sabine als das sechste von acht Kindern in Breslau geboren. Der Vater Professor und Leiter der Universitäts-Nervenklinik in Berlin, die Mutter, Paula eine überzeugte Christin mit klaren Werten. Liebe und Fantasie, Musik, Geschichten und Bücher lernt Dietrich durch sie kennen, freies Denken und den Wert von Gemeinschaft. Denn es gibt viele Feste in diesem Haus. Und auch dass man einander beisteht im Schmerz. Der älteste Bruder Walter stirbt, erst 18 Jahre alt, im ersten Weltkrieg.

„Ein intensives Kind“ sei Dietrich gewesen – sagt sein Freund Eberhard Bethge. Er bleibt es auch als Student der Theologie in Tübingen, und Berlin, als Vikar in der deutschen Gemeinde in Barcelona, wo er sich größter Beliebtheit erfreut. In New York, wo er den Spirit schwarzer Gemeinden schätzen lernt. In London, wo er 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers, ein Auslandspfarramt übernimmt. Hier kümmert er sich auch um jüdische und andere Flüchtlinge aus Deutschland und beginnt mit vielen ökumenischen Freunden in der Anti-Nazi-Bewegung aktiv zu werden. Er schreibt einen Brief an Mahatma Gandhi, und bittet ihn, eine Zeitlang sein Gast sein zu dürfen in dessen indischem Ashram. Bonhoeffer möchte die Spiritualität Gandhis näher kennenlernen und was ihm die Kraft verleiht, gewaltfrei Widerstand zu leisten. Es kommt nicht zu dieser Reise. 1935 wird er von der Bekennenden Kirche gebeten, nach Deutschland zurückzukehren, um das illegal gegründete Predigerseminar Finkenwalde zu leiten. Er kommt zurück im vollen Bewusstsein der Gefahr, der er sich aussetzt. Die Nachfolge Jesu, die geistliche Weggemeinschaft mit anderen, politischer Widerstand verschmelzen hier zu einer einzigartigen inneren Haltung, einer von tiefer Frömmigkeit geprägten Weltzugewandtheit. 1940 wird er als V-Mann im Amt für Spionageabwehr eingestellt, offiziell um seine Auslandsbeziehungen zur Verfügung zu stellen. In Wirklichkeit soll er Kontakte für die Widerstandsgruppe ins Ausland knüpfen.

1943 verlobt er sich mit Maria Wiedenmayer. Im gleichen Jahr wird seine konspirative Arbeit entdeckt und er wird zusammen mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi verhaftet.

Widerstand und Ergebung – in dieser Spannung wird er sein gedrängtes junges Leben verbringen. Nach dem vergeblichen Versuch des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 wird die Chance auf Rettung für Bonhoeffer immer geringer. Am 5. April 1945 befiehlt Hitler die baldige Exekution von Bonhoeffer. Am 9. April wird er im Konzentrationslager in Flossenbürg erhängt. Im Alter von 37 Jahren.

Sein berühmter Text „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist an der Schwelle von Leben und Tod entstanden.

 

Liebe Gemeinde,

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag…“ An der Schwelle von Leben und Tod entstanden, haben diese Worte eine große Kraft, die wir spüren, sobald wir sie singen. Einander zusingen. Zu uns selbst singen. Unsere Seele saugt sie auf, diese Worte. Weil wir die Gewissheit und diesen Trost brauchen, die sie ausstrahlen. Weil wir sie ersehnen. Weil wir so sehr hoffen, dass diese guten Mächte uns wirklich bergen und dass wir es spüren können.

In diesen Tagen greift immer wieder die Dunkelheit nach uns und manchmal dringt sie bis in unser Inneres vor. In den Stunden der äußeren Dunkelheit breitet die innere Dunkelheit sich aus. In den Nachtstunden, kurz vor dem Einschlafen. Mitten in der Nacht, wenn wir aufschrecken oder, wenn wir morgens zu früh aufwachen, sind sie da: Gedanken der Angst, der Sorge, der Not, die uns peinigen. Was wird noch alles kommen? Habe ich das Virus schon? Was ist, wenn ich es bekomme? Dass nur bei wenigen Lebensgefahr droht, nützt mir nichts, wenn ich einer der wenigen bin. Oder einer meiner Lieben. Was wird aus meinem Geschäft, aus meinen Mitarbeitenden? Was mir vertraut ist, Stabilität gibt, ist ins Wanken geraten. Man darf sich nicht mehr berühren. Man darf nicht zusammenkommen zum Gottesdienst. Wie soll das alles gehen? Schaffe ich das?

Im Grau der Nachtstunden kann uns die Macht und die Wucht solcher Gedanken schnell erfassen, ungebremst erfassen. Ich höre von vielen in der jetzigen Krisenzeit, dass sie unruhig schlafen. Und auch ich selbst wache manchmal viel zu früh auf und gerate ins Grübeln, weil ich die Last der Verantwortung spüre.

Um zu verstehen, was mit uns geschieht, mit mir selbst und der so klein gewordenen Welt. Um Gottes Sprache in den Ereignissen unserer Welt zu verstehen, brauchen wir Abstand, Distanz zu unseren aufgewühlten Herzen, zu allem, was mit Macht nach uns greift. Im Hören auf die Passionsgeschichte Jesu finden wir Abstand zu uns selbst, um uns auf einer tieferen Ebene wieder zu finden.

Denn am Karfreitag erinnern wir uns daran, dass Jesus durch dieses Dunkel gegangen ist. Es war Nacht, als seine Zweifel gekommen sind, als er die Angst gespürt hat. „Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ –so betet er nachts im Garten Gethsemane. Eine besondere Form des Innehaltens, liebe Gemeinde. Er spricht aus, was ist, was er fühlt und befürchtet, Ausweichen hilft nicht. Er ringt mit Gott bis zum Schluss am Kreuz. Es gibt nicht viele Zeugnisse von Dietrich Bonhoeffer, in denen auch bei ihm diese Angst offen zum Ausdruck kommt. Ruhig und gelassen, glaubensgewiss und stark haben ihn seine Mitmenschen erlebt. Umso berührender sind die Worte, die er im Gefängnis in einem Text aufgeschrieben hat. Er geht auf Abstand zu sich selbst und fragt „Wer bin ich?“.

 

„Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?...

Wer bin ich? Der oder jener? Wer bin ich?

Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich,

o Gott!“

 

 

„Dein bin ich, o Gott!“ – Wie kommt es, dass Bonhoeffer in dieser abgründigen Situation, wohl wissend, wie sehr sein Leben in Gefahr ist, all seine Angst, all sein Fragen, all sein Zweifeln, mit diesen Ruf des Vertrauens in Gottes Hand legen kann?

Ich glaube, die Antwort ist das, was wir am Karfreitag zu verstehen versuchen. Im Leiden und Sterben Jesu Christi ist diese Erfahrung des Leidens, die wir Menschen so gut kennen, die wir so schmerzlich gut kennen, ins Gedächtnis Gottes selbst eingegangen, in die Erfahrung Gottes eingegangen, in das Sein Gottes eingegangen. Weil Jesus, Gottes Sohn, Gottes Ein und Alles, sein Leben, sein eigenes Selbst, am Kreuz geschrien hat und jämmerlich gestorben ist, deswegen wissen wir, wie nahe Gott ist, wenn wir heute selbst schreien. Wenn wir heute aus unserer Angst nicht mehr herauskommen, wenn wir die Einsamkeit verfluchen, die aus den Kontaktbeschränkungen entsteht, wenn unsere wirtschaftliche Existenz zusammenbricht, wenn wir noch nicht einmal beim Sterben unserer Lieben die Hand halten dürfen.

Wir können all das in Gottes Hand legen, weil Gott mit uns fühlt, mit uns leidet, mit uns weint. „Nur der leidende Gott kann helfen“ – hat Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt.

Manche sprechen in diesen Tagen von einem Gott, der das Corona-Virus als Strafe geschickt hat, um uns zur Besinnung zu bringen. Sie malen uns einen Gott vor Augen, der auf den Corona-Knopf drückt, um seinen Plan für die Welt umzusetzen – und dabei über Leichen geht. Mit einem solchen Gott, liebe Gemeinde, will ich nichts zu tun haben. Es ist nicht der Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat.

Wir kennen menschliche Kälte – aber es gibt auch so etwas wie göttliche Kälte. Solche göttliche Kälte tritt uns vor Augen in Gottesvorstellungen, die nichts mehr ausstrahlen von der radikalen Liebe, die uns in dem begegnet, was wir von Jesus Christus wissen. In ihm zeigt sich Gott als demütige, behutsame Liebe. Sie wirkt in all denen, die heute ihr Leben und ihr Wissen und ihre ganze Glaubenskraft einsetzen, um Menschen zu dienen, zu retten, zu begleiten. Gott ist nicht abwesend, Gott ist nicht fern. Gott ist der Adressat unserer Verzweiflungsschreie. Und die Kraft zu Widerstand und Ergebung. Ja: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.“

Auf dem Weg in die Tiefe, in dem wir Abstand nehmen zu uns selbst, fragen wir: Wer bin ich? Und wir fragen auch: Wer bist du, Gott? Finden neue Antworten und neue Fragen. Christen bitten Gott nicht nur um Glück und Brot. Sie gehen „zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.“ So hat Dietrich Bonhoeffer den Weg des Karfreitag beschrieben. Es ist sein persönlicher Weg gewesen und es ist der Weg, zu dem die Kirche berufen ist. Wo immer sie diesen Weg in die Tiefe geht, in die Not, in die Obdachlosigkeit, ist sie kraftvolle Kirche für andere. Und auch in leeren Kirchenräumen ein Ort für den leidenden und mitleidenden Gott. Für Gott, der zu allen Menschen geht in ihrer Not. Er sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“

Wir wissen nicht, liebe Gemeinde, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden. Ob wir das Virus unter Kontrolle bekommen. Ob ein Impfstoff dagegen gefunden wird. Ob die Welt zusammensteht, um die Ärmsten vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ob unser Land zusammensteht, um den Menschen beizustehen, die jetzt vieles zu verlieren drohen. Ob und wie wir das Leid tragen, das mit dem Sterben in der Kontaktlosigkeit verbunden ist.

Aber wir wissen, dass wir all unser Nichtkönnen, all unsere Ohnmacht in Gottes Hand legen und darauf vertrauen dürfen, dass Gott uns in dieser Notlage so viel Widerstandskraft geben wird wie wir brauchen. Und dass er auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Und deswegen können wir die Worte Dietrich Bonhoeffer an diesem heutigen Karfreitag aus tiefster Seele mitsprechen und mitsingen:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre Eure Herze und Sinne in Christus Jesus.

AMEN

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Dlf Gottesdienst