Was mir heute blüht

Morgenandacht
Was mir heute blüht
05.03.2020 - 06:35
30.01.2020
Stephanie Brall
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Die Nacht ist gerade erst vorbei,

der Tag noch nicht da.

Ich schwinge mich auf mein Fahrrad

und radle aus der Stadt heraus.

Den Schlaf noch in den Gliedern,

atme ich frische Luft ein,

trete in die Pedale, spüre erste Kräfte,

komme in Fahrt.

 

Zwischen Feld, Wald und Wiesen

steige ich ab und gehe zu Fuß weiter.

Morgenlicht blinzelt mir

zwischen den Zweigen entgegen.

Ich entdecke, wie unterschiedlich weit

die Knospen und Blüten sind.

Manche noch verschlossen,

andere schon ganz aufgeweckt.

 

Das japanische Wort für „Blüten betrachten“ ist „Hanami“.

Das gleichnamige Kirschblütenfest wird in Japan

zum Ende jeden Winters gefeiert.

Mit Picknicken unter blühenden Zierkirschen.

Je nach Gegend und Blütezeit beginnen die Feste

im März und gehen bis in den Mai.

 

Ich versuche mich

jeden Morgen in Hanami,

auf meine Weise:

Sämtliche Knospen und Blüten

sind mir willkommen,

laden mich ein, sie zu betrachten.

 

Wie viel es sie wohl kostet, sich zu zeigen?

Nach so langer Zeit im Schutz der Dunkelheit

endlich das Licht der Welt zu erblicken?

Farbe zu bekennen.

Grün, weiß, hellgelb, zartrosa.

Sich auszusetzen.

Jeder Witterung.

 

Was braucht es,

um diese erste Schwelle zu überwinden?

Ist es wie bei langwierigen Wehen?

Oder leicht, wie das Anstupsen einer angelehnten Tür?

Oder ein plötzliches Platzen vor Freude?

Ein Gar-nicht-anders-Können?

Oder von allem etwas?

 

An der Schwelle zu einem neuen Tag

denke ich nach,

was war und was werden will.

 

Zur inneren Weggefährtin wird mir dabei

eine Mystikerin,

die einst „Kleine weiße Blume“ genannt wurde:

Therese von Lisieux.

Sie kam im späten 19. Jahrhundert

in der Normandie zur Welt.

Als Tochter eines Uhrmachers

und einer Spitzenmacherin.

 

„Wenn alle kleinen Blumen Rosen sein wollten“,

sagte sie einmal,

„so verlöre die Natur ihren Frühlingsschmuck,

und die Fluren wären nicht mehr übersät

mit kleinen Blümchen.“ (1)

 

Therese von Lisieux glaubte daran,

dass jede noch so kleine liebevolle Geste

einen Unterschied macht in dieser Welt.

 

Als sie mit 15 Jahren

in das Karmelitinnenkloster von Lisieux eintrat,

suchte sie bewusst die Freundschaft

zu jenen Mitschwestern,

die ihr eher nicht sympathisch waren.

 

Nicht um laute Worte ging es ihr,

sondern um die leisen Zeichen mitten im Alltag,

dort wo sie arbeitete

- ob an der Pforte oder in der Sakristei,

im Speisesaal oder in der Wäschekammer –

aufmerksam zu sein,

den Menschen und den Dingen gegenüber.

 

Vom „kleinen Weg“ der Liebe sprach sie.

 

Dabei litt sie häufig unter starken Zweifeln,

lebte in innerer Dunkelheit.

 

Vielleicht wusste sie sich

deswegen besonders verbunden

mit Menschen, die auf der Suche waren.

Mit den Sehnsüchtigen

und mit den Andersgläubigen.

Mit den Armen

und mit den Hilflosen.

 

Ihre Ungetröstetheit verwandelte sie

immer wieder in trotzige Liebe;

besonders in den letzten,

schweren Monaten ihres Lebens,

bevor sie mit 24 Jahren

an Tuberkulose starb.

 

„Ich kann nicht beten!“

sagte sie auf dem Sterbebett. (2)

Aber auch: „Mein Gott, ich liebe dich.“ (3)

Das sollen ihre letzten Worte gewesen sein.

 

Die kleinen Knospen und Blüten

an den kahlen Ästen meines Lebens entdecken,

das möchte ich gerne,

jeden Tag aufs Neue;

wie die Mystikerin Therese von Lisieux es tat.

 

Das Leben in seinen Widersprüchlichkeiten zulassen

und das Schöne im Unperfekten finden.

 

Im Japanischen gibt es dafür

einen eigenen Ausdruck: „Wabi Sabi“.

Davon inspiriert ist eine ganze Reparaturkunst mit dem Namen „Kintsugi“.

Zerbrochene Gefäße werden wieder zusammengefügt;

Bruchstellen mit goldener Farbe hervorgehoben.

Aus Wunden werden Wunder.

 

Wie gut ist das:

Wenn Narben nicht versteckt werden müssen;

die auf der Haut und die auf dem Herzen.

Wenn das, was mich gezeichnet hat,

mich gleichermaßen auszeichnet.

Und wenn Zerbruch der Beginn von etwas Neuem sein kann;

das Alte dabei aber nicht weg muss,

sondern zur Erfahrung wird,

Erfahrung, die Gold wert ist –

Gold, das geteilt werden will.

 

Ein neuer Tag liegt vor mir.

Ich freue mich drauf.

Gehe hinein.

So wie ich bin.

Hier und jetzt.

Offen für das,

was mir blüht.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Leben lieben: Kreative Inspiration für Feiertage, Allerweltstage und Lieblingstage. bene! Verlag. 2019. ISBN 978-3-96340-049-0

30.01.2020
Stephanie Brall