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Wendepunkt
Wie Jugendliche von der Straße zurück ins Leben finden
08.09.2025 06:35
Jugendliche, die auf der Straße lebt, finden oft nur schwer zurück in ein strukturiertes Leben. Unsere Autorin hat regelmäßig ein Wohnprojekt besucht, das für Jugendliche zum Wendepunkt werden kann.
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In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder Jugendliche mit schwierigen Biografien kennengelernt. Das Leben hat es mit ihnen nicht gut gemeint. Da ist die Mutter psychisch krank. Der Vater gewalttätig oder alkoholabhängig. Die Eltern vielleicht einfach nicht präsent. Mit sich selbst beschäftigt, überfordert.

Andere sind einfach so aus dem Tritt geraten. Ein eigentlich unauffälliges Elternhaus. Morgens ein Frühstück, gemeinsames Abendessen. Fürsorge und Interesse. Aber ab einem gewissen Alter übt die Straße eine unwiderstehliche Macht aus. Sich irgendwo rumdrücken. Abhängen. Kiffen. Andere Drogen. Schließlich wird die Straße das Zuhause. Manche werden straffällig. Andere greift die Polizei auf, weil sie noch nicht volljährig sind.

Dann sind sie wieder ein paar Tage zuhause. Es gibt Stress, weil irgendetwas gemacht oder nicht gemacht ist. Die Straße ist der naheliegende Ausweg. Und das Ganze geht von vorne los. Zur Schule gehen? Längst Fehlanzeige.

Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch im "Wendepunkt". So heißt eine Einrichtung in der Nähe von Bernau bei Berlin. Drei moderne Häuser, in denen je sechs junge Menschen wohnen. Großes Grundstück. Sporthalle. Feuerstelle.

Es ist ein normaler Morgen unter der Woche. Die meisten Jugendlichen sind auf dem Gelände unterwegs. "Ist heute keine Schule?", frage ich. "Schon, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg", erklärt mir die Einrichtungsleiterin. Es dauert, bis sich die Jugendlichen wieder an ein strukturiertes Leben gewöhnen.

Im Lauf des Vormittags kommen die meisten einmal kurz vorbei. Sagen wenig, schauen bloß. Verschwinden schnell wieder.

Ich komme immer wieder zu Besuch. Manchmal machen wir etwas miteinander. Feiern einen Gottesdienst, ein Fest. Ich versuche, in Kontakt zu kommen. Bei einer Person gelingt das. Er fängt an zu reden. Er zeigt mir den Garten, wo er mithilft, Kartoffeln und Tomaten anzubauen. Setzt sich ans E-Piano und spielt das eine Lied, das er sich selbst beigebracht hat. Ich glaube, es ist der Entertainer. Als es mir gut gefällt, findet er, dass er es auch in großer Runde spielen möchte.

Ich bin ganz gerührt. Denke daran, wie er zuerst vorsichtig um mich herumgeschlichen ist. Mit viel Geduld, Klarheit und der Taxierung von Nähe und Distanz ist nun ein erstes Vertrauen gewachsen.

Irgendwann kommt die Zeit, dass die Jugendlichen den Wendepunkt verlassen müssen. Raus aus dem Nest. Rein ins Leben. Sie werden ausgewildert. Oder, um es im Fachjargon zu sagen: verselbständigt.

Bei einer Feier treffe ich eine junge Frau. Sie ist sympathisch, offen, hat gerade ihre Ausbildung mit Bravour abgeschlossen. Sie sagt: "Durch den Wendepunkt bin ich ins Leben gekommen." Ich frage: "Sie meinen, ins Leben zurückgekommen?" "Nein, nein", sagt sie. "Ich bin hier ins Leben gekommen. Da war ich vorher nicht. Hier bin ich ins Leben gekommen."

Für sie wurde der Wendepunkt zum Anfangspunkt. Zum Beginn des Lebens. Das gelingt nicht immer und nicht bei allen. Aber dort, wo es gelingt, ist es eine große Freude. Für alle Beteiligten.

Manche möchten diese Erfahrung an andere weitergeben. Die junge Frau ist Erzieherin geworden. Ein anderer arbeitet nun als Heilpädagoge selbst im Wendepunkt. Um für andere den Weg so zu ebnen, dass sich wenden kann, was an einen Endpunkt gekommen scheint.

Wendepunkt. Erst fand ich den Namen komisch. Weil ich dachte, so ein Wendepunkt ist doch etwas höchst Zufälliges. Die Geschichten der Jugendlichen haben mir gezeigt: Der Name stimmt. Denn bei allem, was unverfügbar ist und bleibt, hat eine Wende auch viel mit dem beharrlichen Geschick derer zu tun, die sich bemühen.

Es gilt das gesprochene Wort.

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