Es gibt Wörter, die sind aus der Mode gekommen. Aber sie sind schützenswert. "Verweilen" ist für unsere Autorin so ein Wort.
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Neulich habe ich mit jemandem heftig diskutiert. Er regt sich darüber auf, wie Sprache sich wandelt und verändert wird. Da habe ich den Spieß einfach mal umgedreht und ihn gefragt: Welche Wörter findest du schützenswert? Das hat dem Gespräch eine neue Richtung gegeben. Und wir hatten Freude daran, einander unsere schützenswerten Lieblingswörter zu nennen.
Seitdem gucke ich, welche Wörter ich behalten möchte. Verweilen gehört dazu. Verweilen ist ein Sehnsuchtswort. Der Sänger und Rapper mit Künstlernamen "Herr Maria" hat ein Lied dazu geschrieben:
"Ich hätt so gern ein Leben zum Verweilen. (…) Ich hätt so gern mehr Hoffnung in die Zeiten (…). Ich hätt so gern von irgendwo ein Zeichen (…) ein Leben zum Verweilen. Ich hätt so gern in diesem Leben einen Sinn. Es zieht mich jeden Tag woanders hin."
Verweilen. Nicht rastlos durch die Gegend sausen müssen. Sich hingeben können. Weil es einen tragenden Sinn gibt. Im Video zu dem Song sieht man einen jungen Mann tanzen, Freestyle. Ohne Choreografie. Anscheinend absichtslos.
Ein Verweilen in Bewegung, das keinem Plan folgt. Wunderbar widerständig gegen meine To-Do-Listen, mit denen ich in die Arbeitswoche starte. Die sind nicht schlecht. Aber das Wort Verweilen tut gut als herrlich absichtsloser Kontrapunkt. Es unterwirft sich nicht dem Alles-durchtakten-Müssen.
Ins Verweilen ist Zeit eingebaut. Verweilen lässt Überraschungen zu, eine neue Perspektive, vielleicht sogar etwas Heiliges. Verweilen heißt: Ich bleibe - ohne sichtbaren Sinn oder Zweck. Das ist Luxus.
Das Wort Verweilen bezieht sich auf schöne Situationen. Zum Beispiel: Dieser Park lädt zum Verweilen ein. Aber es kann auch ausharren und aushalten bedeuten. Ich verweile an einem Krankenbett.
Wenn ich verweile, dann bleibe ich in einer Situation. Das fordert innere Präsenz. Für mich und die anderen. Sonst würde aus dem Verweilen ein Abhängen und Rumhängen. Das hat eher eine verdrossene Natur. Verweilen steigert dagegen den Wert dessen, was passiert ist. Dabei wird das Gute innerlich gefestigt.
Goethe hat das Verweilen berühmt gemacht. Er lässt Faust zu dem Augenblick sagen: "Verweile doch, du bist so schön!" Das sagt Faust bei der Wette mit Mephisto. Das könnte das Verweilen ins Zwielicht rücken. Aber der Wunsch, den Augenblick festzuhalten, muss nicht zum Pakt mit dem Teufel führen.
Im Gegenteil: Jesus ruft dazu auf, die Gott geschenkte Zeit auszukosten. Ich vermute, Jesus war ein großer Verweiler. Er ist nicht durch Galiläa gehetzt und gleich weitergerannt nach seinen Heilungen und Wundertaten. Er ist bei Menschen eingekehrt, hat bei ihnen verweilt.
Durch die Begegnungen mit ihm hat sich für sie Entscheidendes verändert. Es ging nicht um Fließband-Heilung und nicht um Exorzismus-Patient Nummer 23. Jesus war ein wirkliches Gegenüber.
Ich wünsche mir Verweilen für diesen Montag. Ich will den Tag nicht einfach abhaken. Das können die fünf extra wunderbaren Minuten sein, die ich vor dem Supermarkt noch mit der Nachbarin rede. Oder der Weg von einem Termin zum anderen, in dem ich nicht zu erledigende Telefonate packe, sondern einfach so auf der Straße unterwegs bin. Das belegte Brötchen zwischendurch nicht schnell-schnell essen, sondern genießen.
Meine Herausforderung beim Verweilen ist: Ich werde immer so schnell unruhig. Als wäre Verweilen faul oder verkehrt. Als könnte mir alles entgleiten, wenn ich nicht jede Minute für Erledigungen nutze. Einfach so Zeit bereit zu halten zum Verweilen, das kann sich selbstvergessen anfühlen. Auf der anderen Seite: Jeder Tag bringt mit sich, was zu tun ist. Und ein bisschen etwas zum Verweilen müsste doch auch drin sein.
Es gilt das gesprochene Wort.
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