"Geleiten" gehört zu den Wörtern, die ein Mehr an Himmelreich getankt haben.
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Geleiten hat einen Platz auf meiner Liste der schützenswerten Wörter. Geleiten ist für mich ein Engelwort und gehört zu den Begriffen, die ein Mehr an Himmelreich getankt haben. Könnte man das nicht einfach durch "Begleiten" ersetzen? Ich finde nicht. Geleiten hat einen Hauch mehr an Schutz und Fürsorge und Präsenz für die andere Person. Es gibt ja auch den Ausdruck Geleitschutz.
Wer geleitet, muss nicht über außerordentliche körperliche Kräfte verfügen, wohl aber über Geistesgegenwart und innere Präsenz. Geschützt werden muss ja nicht nur der Körper, sondern auch die Seele und der Geist. Wer geleitet, steht und geht dem anderen für eine gewisse Zeit zur Seite. Mit der Kraft, die einem eben innerlich zur Verfügung steht.
Geleiten. Diese Art der Fürsorge kommt oft in Liebesversen oder Liebesliedern vor. Bei Goethe fragt Faust Gretchen: "Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?" Die Band Revolverheld beschreibt das Geleiten so: "Wenn wir nachts nach Hause gehen, die Lippen blau vom Rotwein, und wir uns bis nach vorne an der Ecke meine große Jacke teilen."
Ich finde, das gilt nicht nur für Liebesbeziehungen. Freundschaften brauchen auch eine Art Geleitschutz. Als ein Studienfreund von mir an Depressionen erkrankt ist, habe ich ein paar Tage bei ihm aufgepasst. Er ist ein Riese, doppelt so schwer wie ich. Ich konnte nicht direkt etwas für ihn tun. Nur da sein. Ich bin mit meinen Arbeitssachen für eine Zeit zu ihm gezogen, hab mit ihm gegessen, bin einmal am Tag mit ihm an die frische Luft gegangen. Das war in meiner Examenszeit. Und mir ging es selbst nicht so gut. Ich habe mich nicht wirklich kräftig gefühlt. Es gibt Situationen, da ist nicht ganz klar, wer wen geleitet und beschützt. Auf eine Art haben wir uns gegenseitig geleitet.
Mich rührt deshalb die biblische Geschichte von Rut und Naomi so sehr. Rut sagt da zu ihrer Schwiegermutter: "Ich will gehen, wohin du gehst." Und geht mit ihrer Schwiegermutter Naomi in deren Heimat. Eigentlich ist Rut selbst gefährdet in dieser Situation. Und sie müsste nicht mit Naomi mitkommen. Es gibt keine familiäre oder andere Verpflichtung. Sie tut es trotzdem. Bei den beiden ist ebenfalls nicht klar: Wer geleitet wen? Mal ist Rut für Naomi da, mal Naomi für Rut.
In Geleiten steckt etwas Geborgenes. Wir können füreinander wie ein Engel sein. Dafür braucht es nicht immer viel Zeit. Manchmal reicht ein Satz. "Sie wissen aber schon, dass Sie eigentlich keine Angst haben müssen." Das hat eine unbekannte Frau zu einer Freundin von mir gesagt. Meine Freundin saß auf einer Bank in einem Park in Hamburg. Und sie war völlig durch den Wind wegen ihrer Scheidung. Und dann dieser Satz: "Sie wissen aber schon, dass Sie eigentlich keine Angst haben müssen."
Das hat meiner Freundin spontan Mut gegeben. "Heute war ein Engel bei mir", hat sie später zu mir gesagt. Dieser Satz hat sie behütet durch den Tag geleitet. In einem der schönsten Bibelverse über Engel steht: "Denn Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest." (Psalm 91) So stelle ich mir himmlischen Geleitschutz vor.
Auch den ultimativen. Den letzten, der nicht nur durch verzweifelte Situationen im Hier und Jetzt geleitet, sondern auch auf dem allerletzten Weg. Bei Beerdigungen sagt man: Ich gebe unserer Verstorbenen das letzte Geleit. Es gibt die alten Worte aus der christlichen Beerdigungsliturgie: "Ins Paradies mögen die Engel dich geleiten." Das ist bildhafte Sprache. Wie mein Weg sein wird, das weiß ich nicht. Aber: Wie auch immer er aussieht, ich hoffe dabei auf Gottes Geleit. Dann irgendwann und erst recht für heute.
Es gilt das gesprochene Wort.
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