Gemeinfrei via Unsplash/ Magdalena Kula Man
Entschleunigen ist nicht erst ein Trend unserer Zeit. Früher hieß es "Flanieren". Wer schlendert und sich Zeit lässt, entdeckt manchmal die Geschichten hinter den Dingen.
Flanieren
Die Haltung, sich überraschen zu lassen
21.10.2025 06:35

Entschleunigen ist nicht erst ein Trend unserer Zeit. Früher hieß es "Flanieren". Wer schlendert und sich Zeit lässt, entdeckt manchmal die Geschichten hinter den Dingen.

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Auf meine Liste der schützenswerten Wörter gehört Flanieren. Flanieren hat Erlösungspotenzial. Es ist ein wunderbares Wort aus dem Französischen: Flaner. Das bedeutet: spazieren gehen ohne Hast. Entschleunigen. Sich hingeben an die Eindrücke und das Spektakel des Moments. (1) Also: unterwegs ohne festes Ziel, ohne bestimmte Absicht, im entspannten Tempo, schlendern. Das bietet die Chance, sich ganz vom Augenblick küssen zu lassen.

Beim Flanieren denke ich an Herrn Schmidt. Er wohnt bei mir um die Ecke. Wenn er nicht fast täglich durch unser Viertel flanieren würde, hätten wir uns nicht kennengelernt. Eines Tages ist er das erste Mal an meinem Vorgarten vorbeigeschlendert. Ich bin irgendwie beschäftigt, hab Tulpenzwiebeln gesetzt oder den Müll rausgebracht. Es kommen öfter mal Leute vorbei. Die grüßen in der Regel kurz und gehen dann weiter. Ich selbst bin auch so: meistens in Gedanken, was ich als Nächstes tun muss.

Nicht so Herr Schmidt. Er ist Flaneur. Er geht raus und guckt, was passiert. Das hat er mir mal erzählt. Er macht das so, seitdem seine Frau vor einigen Jahren gestorben ist. Seitdem nimmt er sich Zeit und hat Platz für Geschichten. Das passiert beim Flanieren.

"Sie haben wieder viel Arbeit", sagt Herr Schmidt zu mir. Ich sammle gerade die Walnussblätter von unserer Treppe. Ich biete ihm ein paar Nüsse an. "Walnüsse haben viel von dem, was wir brauchen", sagt er. Er nimmt sie mit für sein Müsli zum Frühstück. Ich erzähle ihm: "Meine Großmutter hat in der Nachkriegszeit Walnüsse im Garten ihrer Schwiegermutter geklaut. Für die Kinder, weil die so hungrig gewesen sind." Herr Schmidt versteht das. Er schaut mich an und sagt: "Wenn ich das höre, dann freue ich mich umso mehr, dass Sie mir etwas abgeben von Ihrer Ernte."

Ich mag diese kleinen Gespräche. Manchmal gehe ich extra raus mit dem Müll, wenn ich sehe, dass er vorbeikommt. Ich hoffe, ich kann mir etwas von seinem Flanieren abgucken. Denn schon eine Mini-Portion kann den Charakter eines Tages verändern. Dann schmeckt der Dienstag nicht nur nach Dienst, sondern nach Walnüssen und ihren Geschichten dazu.

Flanieren war im Paris des 19. Jahrhunderts eine Kunstform. Es gehörte vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Man ließ sich von ihnen das Tempo vorgeben. (2) Dandys gingen gern langsam, um sich der Öffentlichkeit zu zeigen. Sie wollten sehen und gesehen werden.

Später dann, Anfang des 20. Jahrhunderts diente das Flanieren der Verfeinerung der Wahrnehmung. Man entdeckt, woran man sonst achtlos vorbeigegangen wäre: das Muster auf einem Dach, den Sonnenreflex auf einem Stein, den Geruch eines Weges. Die Dinge wirken, als würde sich hinter ihnen noch ein anderer Sinn als der offensichtliche verbergen. (3)

Flanieren hat dann etwas Spielerisches. Wer nach Funktionalität und Effektivität fragt, geht leer aus. Darin ähnelt das Flanieren dem Pilgern oder einer Gehmeditation. Einen Zweck gibt es nicht. Aber die Offenheit dafür, dass sich ein Sinn ereignet. Manchmal begegnet einem jemand. Oder man bekommt eine Einsicht, oder eine neue Idee. Man kann das aber nicht vorhersagen oder erzwingen. Man schaut nicht auf den Schrittzähler. Flanieren feiert die Zeit, die Bewegung und die Pausen.

Klingt gelassen, ist aber ganz schön herausfordernd. Die meisten Leute, die ich kenne, haben einfach zu viel Druck, nicht die Geduld und keine Muße zum Flanieren. Ich lasse mich trotzdem gern davon inspirieren. Kann sein, dass ich heute keine Zeit dafür habe. Aber Flanieren ist eine Haltung, mit der ich in den Tag gehen kann. Diese Haltung besingt Max Raabe so: "Ich nehme es so, wie es kommt, lasse mich überraschen." Das stärkt die innere Offenheit und befreit vom Verzwecken. Denn unser Dasein ist so vieles mehr als das Ankommen und als alles Effektive. Es bedeutet: Auskosten dürfen. Einfach da sein.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

(1) Le Micro Robert

(2) Walter Benjamin, zitiert in der NZZ: https://www.nzz.ch/articleF2LNV-ld.411927

(3) Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Unterwegs zu Swann. In: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurter Ausgabe. 1. Auflage. Band 1. Suhrkamp, Berlin 2015

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