Gemeinfrei von Pixabay/soej24
Kaddisch
Trauer kann eine Brücke sein
07.10.2025 06:35

Vor einem Jahr in Hannover. Ein stiller Gedenkzug von Menschen, die an die israelischen Geiseln erinnern, wird von Gegendemonstranten angeschrien. Warum fällt es schwer, die Trauer der anderen Seite auszuhalten?
 

Sendetext nachlesen:
 

Genau ein Jahr her. Ein kalter, klarer Tag. Am Hauptbahnhof Hannover geht ein Demonstrationszug vorbei. Ein Gedenk-Zug. Ein Trauer-Zug. Still, schweigsam, kein Megafon, keine Parolen. Leise, ohne Worte. Es sind Angehörige der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, einer Arbeitsgemeinschaft. Darunter ein paar junge Leute, dazu Männer in Funktionsjacken, Frauen mit dunklen Schals. Sie tragen Tafeln mit Fotos, eine Fahne mit dem Davidstern. Am Jahrestag des blutigen Überfalls der Hamas auf Israel erinnern sie an das Schicksal der verschleppten Geiseln, die Sorge der Angehörigen, die Trauer um die Ermordeten. 

Am Straßenrand hat sich eine größere Zahl an Gegendemonstranten versammelt. Sie schreien den stillen Trauerzug nieder. Einige tragen die Kufiya, das sogenannte Palästinensertuch, schwenken Fahnen in Schwarz, Weiß, Grün mit dem roten Dreieck. Erhobene Fäuste und immer wieder der Ruf: "Free, free Palestine!" 

Polizisten bilden eine Kette am Straßenrand. Sie halten den Trauerzug und die Gegendemonstranten voneinander getrennt. Schwarze Helme mit Nackenschutz, Bodycams, Schlagstöcke. In meiner Magengegend breitet sich ein flaues Gefühl aus. Die Wut über den Krieg in Gaza kann ich verstehen. Voll und ganz. Aber muss man deshalb ausgerechnet am 7. Oktober das stille Gedenken stören? 

Das war vor zwölf Monaten. Heute ist es bereits zwei Jahre her, dass die Hamas Israel überfallen hat. Am 7. Oktober 2023, über tausend Jüdinnen und Juden ermordet, über hundert Geiseln verschleppt.

Ich erlebe es überall: in der Kneipe, an der Schule meiner Kinder, mit Nachbarn, in der Kirchengemeinde und im Freundeskreis. Der Nahostkonflikt entzweit. Der Hamas-Terror und der Krieg der israelischen Regierung in Gaza lässt Gesprächspartner schnell unversöhnlich gegenüberstehen. Wutschnaubend, lautstark – und dabei bleibt es meistens. Es wächst kein Verständnis. Es entsteht keine Brücke, nur die Gräben werden tiefer.

Demokratie lebt vom Streit. Dabei sollen Leid und Unrecht beim Namen genannt werden. Ja, das kann auch mal lautstark geschehen. Aber niemals darf eine solche Debatte zu Antisemitismus führen. Und genau das geschieht, auf der Welt und bei uns in Deutschland. In Flensburg hängt ein Händler ein Schild ins Schaufenster mit der Aufschrift: "Juden haben hier Hausverbot!" * 
Die Münchner Philharmoniker werden mit ihrem israelisch-jüdischen Dirigenten von einem Musikfestival in Gent ausgeladen. "Um die Gelassenheit [der Veranstaltung] nicht zu gefährden", so die Organisatoren. Da entstehen Initiativen, um Israel von kommenden Sportevents auszuschließen. Nicht zu vergessen die Pfiffe während des Auftritts der israelischen Künstlerin beim letzten ESC in Basel. 

Einer meiner jüdischen Freunde hat eine Postkarte bekommen mit dem Satz: "Zionisten sind Faschisten." Handschriftlich mit Kugelschreiber, ordentlich frankiert, aber ohne Absender. Ich weiß Jüdinnen und Juden, dass sie sich vom Taxi nie vor der eigenen Haustür absetzen lassen. Immer ein paar Straßen weiter, damit die Familie geschützt bleibt. Und den gepackten Koffer zu Hause, den gibt es bei einigen tatsächlich. Immer bereit, das Land zu verlassen, wenn der Hass nicht mehr auszuhalten ist. 

Dieser 7. Oktober gehört den verschleppten Geiseln, den Familien der Ermordeten. Es ist ein Tag der Trauer. Und Trauer hat Stille und Andacht verdient. Bei jüdischen Familien, die einen Angehörigen verloren haben, wird das Kaddisch gesprochen.** Am Tag der Beerdigung, in der Trauerwoche und jedes Jahr am Todestag. Das Kaddisch ist ein Heiligungsgebet. Es drückt Vertrauen aus: Jenseits von allem Leid ist und bleibt Gott, der die Welt geschaffen hat. Gott hält die Welt auch weiter in seiner Hand. "Erhoben und geheiligt werde Gottes großer Name."  

Trauer ist ein starkes Gefühl, eine Brücke. Menschen kommen einander näher, wenn sie ihren Kummer miteinander teilen.

Es gilt das gesprochene Wort.
 

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!