Zugverspätung und eine Frage. Damit hat für unseren Autor Oliver Vorwald eine Engelsgeschichte begonnen.
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Der Zug schleicht im Schritttempo durch die brandenburgische Weite. Die Zugchefin schaut auf ihr Display, wischt nach unten. "Wir kommen gut 90 Minuten später in Hannover an." "Um Gottes Willen", sage ich. "Das geht nicht. Ich bin Pastor. Ich muss eine Trauerfeier halten." Die Frau blickt auf, schaut mich lange an und sagt schließlich: "Was brauchen Sie?" Und mit dieser Frage wird mein Dienstagmorgen zu einer Engelgeschichte.
Engel tauchen in der Bibel immer dann auf, wenn jemand Hilfe braucht, alle Hoffnung davongefahren ist. Engel wollen Mut machen, Bauch und Seele stärken. Manchmal rollen sie sogar Steine weg, öffnen versperrte Wege.
Meine Engelgeschichte beginnt in Berlin. Ich bin für ein verlängertes Wochenende dort gewesen. Am Dienstagvormittag geht es zurück. Und da ich anschließend gleich ich die Beerdigung zuhause bei Hannover halten muss, habe ich alles dabei: Predigt, Gebete und denTalar.
Meine Nachbarin ist verstorben, Anfang 70, rote Haare wie die Mädchen auf den Egon-Schiele-Bildern, markanter Lidstrich und ein großes Herz. Die Trauerfeier findet um 14 Uhr statt. Ich habe die Rückreise mit Zeitpuffer geplant. Aber mein ICE fällt aus. Ich nehme einen anderen Zug. Der müsste sogar früher in Hannover ankommen, so dass ich genügend Zeit zum Umsteigen hätte. Aber auch der fährt verspätet ab.
Ich setze mich ins Bordbistro und sehe durchs Fenster, wie der Zug immer langsamer wird. Banger Blick auf die Uhr. Der Satz der Zugchefin: "Wir kommen gut 90 Minuten später in Hannover an." Panik. Dann schaffe ich es nie und nimmer. "Seelsorge-Notfall", entfährt es mir.
Die Zugchefin antwortet anders, als ich es erwartet habe. "Würde es Ihnen helfen, wenn wir außerplanmäßig in Braunschweig halten?" Ich nicke heftig. Sie fügt hinzu: "Aber ich habe auch eine Bitte an Sie, Pastor: Segnen Sie uns." Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Dann rutsche ich vom Bistrohocker, stelle mich mitten in den Wagen.
Ich breite die Arme aus und spreche den Segen, der sonst am Schluss eines Gottesdienstes zu hören ist. Das biblische Israel hat ihn vor tausenden Jahren für seine lange Reise durch die Wüsten des Lebens erhalten: "Gott segne euch und behüte euch. Gott schaue freundlich auf euch. Gott gebe euch Frieden."
Die Zugchefin bedankt sich, nimmt ihr Mobilgerät und geht aus dem Bordbistro. Es dauert, bis sie wieder da ist. Aber sie kommt mit einer guten Nachricht: "Es klappt, außerplanmäßiger Halt in Braunschweig. Hilft auch noch anderen Gästen", sagt sie augenzwinkernd.
Als wir in Braunschweig ankommen, begleitet mich die Zugchefin zur Tür. Sie öffnet mit dem Vierkantschlüssel den Schließmechanismus, so dass ich schnell aussteigen kann.
Eine Nachbarin holt mich vom Bahnhof ab und fährt mit mir zum Ort der Beerdigung. Ich schaffe es tatsächlich rechtzeitig. Um Punkt 14 Uhr ziehe ich in die Friedhofskapelle ein. Niemand ahnt, welche Geschichte ich an diesem Vormittag erlebt habe. Von meiner Panik, der Sorge, die Trauernden allein auf dem Friedhof stehen zu lassen. Von diesem Engel in der Bahn mit der Frage: "Was brauchen Sie?" Ich glaube, mit diesen Worten können wir Menschen manchmal einander Engel sein. Indem wir schauen, was der andere außerplanmäßig braucht.
Solche Engelaugenblicke in der Bahn erlebe ich nicht alle Tage. Viel häufiger sind die Momente, in denen ich auf der Strecke bleibe, niemand auftaucht. Aber an diesem Tag, an dem ich für andere da sein sollte und wollte, hat alles geklappt. Als hätte der Himmel seine Hand im Spiel gehabt. Klingt kitschig, ich weiß. Aber genauso ist es gewesen.
Es gilt das gesprochene Wort.
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