Tot und vergessen?

Tot und vergessen?
Pfarrer i.R. Alfred Buß
20.11.2016 - 00:00
08.11.2016
Alfred Buß

Auch die Toten gehören zu Gott

Manche Menschen gehören einfach zum Straßenbild. Auch, wenn man sie gar nicht kennt. So ging es mir mit einem älteren hageren Mann, der mit seinem bepackten Fahrrad regelmäßig durch die Stadt zog. Kurierdienste erledigte er oder Hilfsarbeiten. Ganz oft durchsuchte er auch Mülleimer nach Brauchbarem.

Dass er keinen festen Wohnsitz hatte und Otto hieß, erfuhr ich erst, als er gestorben war. Woher er kam? Otto hatte es selber nicht gewusst. Er war wohl Waisen- oder Findelkind. So manches Mal überfielen ihn Wahnvorstellungen. Die konnten ihn treiben - bis in Todesnot. Er suchte dann Zuflucht bei der Polizei oder in der Kirchengemeinde. Doch richtig stolz war er, wenn er sich in der Gemeinde nützlich machen konnte.

„Jetzt fehlt hier einer,“ sagte der Bezirkspolizist. „Otto ist nicht mehr da.

Otto. Kein Mensch ist ein anonymes Wesen. Allein schon sein Name sagt, dass er ein einzigartiger Mensch ist. Und es auch bleibt, wenn er tot ist!

Am heutigen Totensonntag werden alle noch einmal bei Namen genannt, die im letzten Jahr verstorben sind – so ist es Tradition in den evangelischen Kirchen. Und vielerorts werden Kerzen angezündet – als heller Schein aus Gottes Ewigkeit.

So auch bei Ottos Beerdigung. Die Kirchengemeinde hatte zum Trauergottesdienst eingeladen. Und mehr als hundert Leute kamen: Mitarbeiterinnen der Bäckerei, Polizisten, Bedienstete der Stadt, Ottos Freunde von der Straße, Gemeindeglieder und manche einfach so. Alles keine geübten Gottesdienstbesucher, aber alle erstaunlich offen und bewegt. Eine wunderbare Gottesdienstgemeinschaft.

All das hatte Otto geschafft.

Es entstand eine Atmosphäre, wie sie wohl bei den ersten Christen war.

Ja, bei den frühen Christen hatten alle einen Namen, alle gehörten dazu, egal, welcher Herkunft, ob sie Sklaven waren oder Freie, egal auch, welchem Volk sie angehörten. Alle gehörten zu Christus. Sowohl im Leben als auch im Tod.

Als dies wurde mir wieder bewusst, als ich dieser Tage über den Hauptfriedhof einer Großstadt ging. Und Stelen fand mit Tontäfelchen dran. Eingeritzt darin Namen von Toten, Es sind Namen von Sowjetbürgern, Polen, Jugoslawen. Neben den Namen der Geburtstag und der Todestag. Und ich erfuhr: Hier sind auf dem Hauptfriedhof über 5000 Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, Polen und Jugoslawien in Massengräbern verscharrt worden. Sie wurden Opfer des Bombenkrieges unter der Naziherrschaft, starben unter der Drangsal oder wurden ermordet.

Nun hatten die Schülerinnen und Schüler einer Schule alle Namen recherchiert, die noch zu finden waren, und sie in die Tontäfelchen geritzt.

Diese kleinen Täfelchen zeigen: Kein Mensch ist ein anonymes Wesen. Er ist und bleibt ein einzigartiger Mensch. Auch die Toten gehören zu Gott. Alle. Wie auch Otto. Sie sind aufgehoben in Gottes Gedächtnis. Für immer und ewig.

Gott sei Dank.

08.11.2016
Alfred Buß