Wieder ins Gespräch kommen - Das Wort zum Jahresbeginn

Wieder ins Gespräch kommen - Das Wort zum Jahresbeginn
von Pfarrer Wolfgang Beck, Hildesheim
01.01.2021 - 23:25
28.12.2020
Dr. Wolfgang Beck

Sie sprechen miteinander. Mitten in der Nacht. Damit niemand etwas mitbekommt. Ein Geheimtreffen. Zwei Menschen: Nikodemus und Jesus. Es ist keine nächtliche Vertragsverhandlung, sondern ein echtes Gespräch. Nikodemus ist Pharisäer, Schriftgelehrter. Er hat so einiges über Jesus gehört. Nun will er ihn persönlich kennenlernen und sich seine eigene Meinung bilden. Was ist dieser Jesus für ein Mensch? Warum spricht und handelt der so? Wo kommt der her?

Mich fasziniert dieses nächtliche Gespräch gerade in der aktuellen Situation. Da kommt der eine mit Fragen und am Ende gibt es keine Einigung. Keine Einigung! Aber darum geht es gar nicht. Es ist ein nächtliches Gespräch, in dem eine Grundhaltung sichtbar wird, die lautet: Ich muss mal drüber nachdenken.

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, mich fasziniert das gerade auch im Blick auf das neu beginnende Jahr. Ein Jahr, das im Krisenmodus startet. Da gibt es ja nicht nur die hektischen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Da gibt es die drängenden Fragen des Klimaschutzes. Sie erfordern wohl noch viel tiefer einschneidende Maßnahmen, als wir uns das heute vorstellen können. Da gibt es die Beobachtung, dass viele Menschen für Debatten im politischen und journalistischen Bereich gar nicht mehr erreichbar und gesprächsbereit sind. Bei all den komplizierten Sachthemen wird es darauf ankommen, mit möglichst vielen im Gespräch zu sein und zu bleiben. Sich so wie Nikodemus und Jesus zusammen zu setzen. Einfach noch mal nachzufragen. Das ist das Gegenteil von Talkrunden, die häufig mehr zur krawalligen Unterhaltung da sind als dabei helfen sollen, etwas besser zu verstehen. Da geht es häufig nur darum, sich zu präsentieren und gewitzt und clever andere in die Enge zu treiben. Wirkliches Gespräch bedeutet dagegen ja, in der anderen Person und ihrer Meinung nicht eine Gegnerin zu sehen, sondern eine Gelegenheit zum Lernen.

Natürlich weiß ich, wie selten so etwas gelingt. Ich weiß ja selbst, wie selten es vorkommt, dass ich in einer Diskussion denke oder sage: „Ah, das ist interessant. Da muss ich erstmal drüber nachdenken!“

Darauf kommt es aber an. Das hieße dann, nicht gleich auf ein Argument reagieren zu können. Nicht gleich die eigene Position dagegen zu halten. Eher schon: Spielräume erhalten, weil ich selbst in vielen Fragen noch keine feste Meinung habe. Eher eine Tendenz. Und weil ich dann signalisiere: „Darüber muss ich erst noch mal in Ruhe nachdenken.“ Das könnte für das neue Jahr mit seinen großen bevorstehenden Themen hilfreich sein.

Was das bedeutet, habe ich vor ein paar Tagen in einem Buch der Philosophin Eva von Redecker gelesen. Sie beschreibt verschiedene Protestbewegungen und erzählt von einem Protestzug in der norditalienischen Stadt Verona: Während der Demonstration tanzte auf einem Balkon eine berühmte Tänzerin mit einer deutlichen Gegenmeinung. Das waren nicht einfach Demo und Gegendemo. Es war eher die Situation einer Demo, in der jemand mit anderer Meinung tanzen konnte. Das ist eine schöne Vorstellung: den Andersdenkenden ausreichend Raum zu lassen. Das klingt vielleicht etwas idealistisch oder sogar kitschig. Mag sein. Es ist aber auch ein bisschen wie bei dem nächtlichen Gespräch zwischen Jesus und dem wissbegierigen Nikodemus. Da kommt es zu keiner Bekehrung. Das wäre vermutlich auch seltsam. Beide gehen wieder auseinander. Offenbar müssen da nicht sofort alle Standpunkte klar sein. Es genügt doch, wenn sich Menschen den Luxus gönnen, noch etwas über die Fragen nachzudenken und die fremde Meinung ein klein wenig tanzen zu lassen. Das wünsche ich Ihnen und mir für das neue Jahr!

 

 

 

 

28.12.2020
Dr. Wolfgang Beck