Mut zur Irritation
mit Theologieprofessorin Julia Enxing
22.10.2022 23:50

Mut zur Irritation

Ich sitze an einem Vierertisch im Großabteil eines ICEs, mir gegenüber eine Mutter mit ihrem circa zehnjährigen Sohn. Irgendwann bietet der Junge, sehr umsichtig, wie ich finde, seiner Mutter an, er könne doch mal ins Bordrestaurant gehen und ihr einen Tee holen.

Sie: Total begeistert, drückt ihm noch einen Zehn-Euro-Schein in die Hand, er solle doch auch einen Snack für sich kaufen. Nach kurzer Zeit kommt der Junge gut gelaunt zurück, den Tee in der Hand. „Und Du? Gab’s nichts für Dich?“, fragt die Mutter. „Nee“, sagt der Sohn, „ich hab kurz überlegt, ob ich mir ne Laugenbrezel kaufe, aber da stand dran, dass die vegan sind.“

In dem Moment strenge ich meine Fantasie an und frage mich, was das Außergewöhnliche an einer veganen Laugenbrezel sein soll….

Da sagt die Mutter: „Ja, das kommt jetzt immer mehr, das ist jetzt auch so’n Mode-Ding. Aber wir, wir lassen uns davon nicht irritieren, ne?! Ich kauf Dir in Frankfurt ne richtige Brezel, okay? Der Sohn, längst wieder in sein Smartphone vertieft, murmelt „ahhe“. „Aber wir, wir lassen uns nicht davon irritieren“… dieser Satz geht mir nach. Warum eigentlich nicht? Warum lassen wir uns nicht davon irritieren, dass ein zunehmendes Verständnis für das Lebensrecht aller auch zum Umdenken unserer Ernährungsgewohnheiten und unseres Konsums führen muss? Warum haben diese Themen – wie die Frage, ob wir Tiere essen dürfen – solch eine enorme Sprengkraft? Und wie kommen wir eigentlich auf die Idee, dass sich die katastrophale Situation unseres Planeten, die schier unendliche Gewalt, die Tiere täglich in der Fleisch- und Milchindustrie erleben und das Plastik in den Bäuchen der Fische sich ändern könnten, wenn wir weiter so machen wie bisher, wenn wir uns davon nicht irritieren lassen?

In mir regt sich eine Stimme: Doch, doch, bitte, lassen wir uns alle mal ordentlich irritieren. Lassen wir, die wir wohlgenährt, gut versorgt und in stabilen Verhältnissen leben, lassen wir uns mal irritieren. Lassen wir uns verunsichern, durcheinanderwirbeln, hinterfragen wir uns, fragen wir uns gegenseitig an. Wie soll das sonst gehen, dass „Gott alles neu macht“, wie es beim Propheten Jesaja heißt. Wie soll etwas Neues entstehen, wenn wir nicht offen sind für Neues?

Gott macht alles neu – allein mir fehlt der Glaube. Aber wenn er dabei sein will, wenn zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind, dann ist er bei allem Neuwerden wohl auf unserer Hilfe, unser Mittun, unser Engagement angewiesen. Lassen wir uns von der dramatischen Situation unseres Planeten berühren und begeben wir uns an die Seite all derer, die schon jetzt für ein Überleben von Mensch und Tier, von Pflanze und Fluss kämpfen…. Ja, und dann wünsche ich uns Mut, nicht gleich die Grenze zu ziehen, die Ohnmachtsgrenze, es habe ja ohnehin alles keinen Sinn und wir könnten nichts erreichen.

Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Wenn das stimmt, dann können wir wirklich das uns Mögliche tun, um der Schöpfung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dann wünsche ich uns Kraft und Mut, sich diesem rebellischen Jesus von Nazareth anzuschließen. Schließlich ist er immer wieder für eine Veränderung der aktuellen Verhältnisse eingetreten. Voll von Hoffnung, Vertrauen und Liebe.

 

Sendeort und Mitwirkende

Mitteldeutscher Rundfunk (MDR)
Redaktion: Susanne Sturm

Kontakt zur Sendung

Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den MDR

Guido Erbrich, Bistum Dresden-Meißen

Georg-Schumann-Straße 336

04159 Leipzig

Tel: 0341 - 46766115

E-Mail: senderbeauftragter@bddmei.de