"Rühmen, was soll das Rühmen?", fragt der Apostel Paulus in seinem Römerbrief. Was muss ein Mensch leisten und vorweisen, um etwas zu gelten? Nichts, meinte Paulus. Was einen Menschen ausmacht, das schenkt Gott gratis – allein aus Gnade. Mensch, du darfst einfach sein. "Gott durchbricht den Leistungsgedanken", predigt Oberkirchenrätin Ingrid Bachler im Radio- und TV-Gottesdienst am Reformationstag, 31. Oktober. Die Fixierung allein auf Leistung bringe immer auch Verlierer. Aber "Gott setzt auf Gnade".
Die Entdeckung der Gnade ist ein Ur-Moment der Reformation. Martin Luther hat damit die Kirche und die Gesellschaft verändert. Das wirkt bis heute in unserer von Leistung geprägten Zeit.
Zusammen mit Ingrid Bachler gestalten den Rundfunkgottesdienst der Ortspfarrer Michael Wolf und ein Team. Ein Chor der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien unter Leitung von Manuel Schuen singt Musikstücke aus der Reformationszeit.
Der Gottesdienst wird aus der evangelischen Christuskirche in Wien-Favoriten live übertragen im Radio auf Ö1 und dem Deutschlandfunk, im TV kann man in ORF III mitfeiern. Beginn ist 10.05 Uhr.
Lieder des Gottesdienstes:
1. EG 362, Ein feste Burg, Strophen 1-3
2. EG 179, Allein Gott in der Höh, Strophen 1-3
3. EG 341, Freut euch, ihr lieben Christen g’mein, Strophen 1, 5, 19
Predigt nachlesen.
Kennen Sie das "Floating - Duck -Syndrom"? Stellen Sie sich vor:
Eine Ente gleitet scheinbar mühelos über das Wasser – wie kraftvoll sie im Wasser mit den Beinen strampeln muss, und ob sie sich dabei anstrengt, sieht man von außen nicht. So ist es auch oft mit den Social-Media-Profilen der Schönen und Erfolgreichen. Scheinbar mühelos haben sie alles, was andere nie erreichen. Sie posten Bilder aus den schönsten Gegenden der Welt und haben gefühlt immer Urlaub bei dauerhaft schönem Wetter. Das führt bei manchen Menschen, die ein gewöhnliches Leben führen, zu Frust und Verunsicherung.
Das "Floating-Duck-Syndrom" kann als Preis unserer Leistungsgesellschaft gesehen werden. Leistungsdruck und Konkurrenzdruck nehmen zu, und die sozialen Netzwerke spielen dabei eine Rolle. Dort, auf TikTok, Instagram und Co., wird der Konkurrenzdruck sichtbar ausgelebt, und scheinbar jeder und jede hat die Möglichkeit, ein Star zu werden.
Sich nur von erfolgreichen Kolleginnen und Kollegen umgeben zu sehen, von deren Rückschlägen und Schwierigkeiten man ja nichts weiß, übt einen ungeheuren Druck aus und produziert massive Unsicherheiten.
In vielen Bereichen des modernen Lebens genügt es nicht mehr, bestimmte Herausforderungen zu bewältigen. Man muss dabei auch noch den Eindruck vermitteln, dass das alles überhaupt kein Problem ist und mit Leichtigkeit gemeistert werden kann. Das führt leicht zur Erschöpfung - und viele Menschen fühlen sich heute so müde und erschöpft wie nie.
Liebe Gemeinde,
ich lade Sie heute zur Wiederentdeckung eines Bibelwortes ein.
Es hat die religiöse Leistungsgesellschaft zur Zeit Martin Luthers in eine neue Richtung geführt. Ein kleiner Abschnitt aus dem Römerbrief ist es, der die Welt damals aus den Angeln gehoben hat:
"Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist."
Gott erlöst den Menschen aus Gnade.
Erlöst ist der Mensch von allem, was ihn gefesselt hat. Vor allem von dem Zwang, sich Gnade verdienen zu müssen. Damit zerbrach die ganze Bußpraxis des Mittelalters, mit ihrem Ablasshandel und aller Knechtschaft, in die Menschen gebunden wurden. Das ganz Weltbild des Mittelalters brach zusammen, und: Befreiung war angesagt.
Vor Gott gerecht aus Gnade.
Ich kann mir gut vorstellen, dass das heute für viele Menschen ziemlich fremd klingt. Was bedeutet dieses Wort?
Ich versuche das an Luthers Entdeckung deutlich zu machen. Er erkannte an diesen Versen des Römerbriefes, dass das Ansehen bei Gott eine Gnade ist. Der Mensch kann sie nicht durch seine Leistung verdienen, nicht durch eine barmherzige Gesinnung oder durch gute Taten. Es ist Gottes Gnade, auf die ich vertraue, sie ist mir geschenkt.
Ein Text von Joachim Dachsel, er war Sozialethiker und Neutestamentler, erinnert mich immer wieder an dieses Geschenk der Gnade:
"An jenem Tage, der kein Tag mehr ist –
Vielleicht wird Gott sagen:
Was tretet ihr an
Mit euren Körben voller Verdienste, die klein sind wie Haselnüsse
und meist hohl?
Was wollt ihr,
mit euren Taschen voller Tugenden,
zu denen ihr gekommen seid
aus Mangel an Mut,
weil euch die Gelegenheit fehlte
oder
durch fast perfekte Dressur?
Habe ich euch nicht davon befreit?
Wissen will ich:
Habt ihr die anderen angesteckt mit Leben?"
Habt ihr die anderen angesteckt mit Leben?, fragt Gott in dem Text von Joachim Dachsel. Haben wir?
Was mir in meinem Glauben in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist, ist dieser Satz:
"Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist."
Aus diesen Worten höre ich:
Ich werde vor Gott nicht gerecht, indem ich besonders viele gute Taten vorweise. Ich kann mir nicht kaufen, dass Gott freundlich auf mich schaut. Bei Gott kommt es nicht darauf an, dass ich ein großes Vorbild darstelle – oder mich auf andere Vorbilder berufe, auf Heilige zum Beispiel, die so gut gelebt haben, dass etwas von ihren Wohltaten auch für mich übrigbleibt.
Gott schenkt mir sein Wohlwollen einfach so. Gratis.
Wer das in sein Leben übersetzen kann, gehört zu den Gewinnern und Gewinnerinnen der Gnade.
Gott verlangt nicht Leistung, sondern Gott setzt auf Gnade.
Aber wie leben wir mit dieser Entdeckung? Wie kommen wir aus dem täglichen, selbst auferlegten Optimierungskreislauf heraus, der nur müde macht, latent wütend und erschöpft?
Ein gutes Mittel dagegen ist Gemeinschaft, Inklusion.
Denn Zugehörigkeitsgefühl ist bewiesenermaßen ein wichtiger Hebel zum Erhalt der mentalen Gesundheit. Das Gefühl: Ich gehöre dazu, bin angenommen, so, wie ich bin. Ich bin Teil einer Gemeinschaft, in der Familie, bei der Begegnung mit Freundinnen und Freunden oder am Arbeitsplatz, in meinem Verein oder in der Kirchengemeinschaft.
Ein Mensch, der mich begeistert, ist Marianne, eine Mitarbeiterin der Diakonie Österreich. Sie hat mir erzählt: Bei ihrer Arbeit mit behinderten Menschen hatte sie die Idee, mit ihren Klientinnen und Klienten eine Kegelrunde zu gründen. Mittlerweile gibt es ein eigenes Kegel-Team. Sie konnte einen Wirt überzeugen, dass seine Kegelbahn durch die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Kegelrunde nicht beschädigt würde. Das hat die Möglichkeit für gemeinsame Erlebnisse geschaffen.
Kirchen bieten wahrhaft gute Möglichkeiten, das Floating Duck Syndrom hinter sich zu lassen. Das "Floating-Duck-Syndrom" - wenn eine Ente scheinbar mühelos über das Wasser gleitet – und man nicht sieht, wie sie im Wasser mit den Beinen strampeln muss, man nicht sieht, wie sie sich dabei anstrengt.
Kirchen helfen dagegen. Sie bieten Räume zum Austausch mit anderen, zur Begegnung in Gemeinschaft, zum Kennenlernen anderer, - im Winter auch ein "warmes Platzerl" zum Aufwärmen und im Sommer Räume zum Verweilen und Abkühlen. Ohne dass man sich abstrampeln muss.
"Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist."
Gott macht gerecht. Das nennen wir Gnade. Die Gnade befreit uns vom Zwang, uns selbst zu rechtfertigen. Sie befreit uns vom Drang, nach Sündenböcken zu suchen. Sie befreit uns auch von dem Anspruch, im Hamsterrad der eigenen Anforderungen immer mitlaufen zu müssen. Die Gnade Gottes kann uns neu machen.
Und das hat Auswirkungen: Menschen, die uns begegnen, sind dann nicht mehr Konkurrentinnen und Konkurrenten, weil sie vielleicht etwas besser können und mehr wissen.
Und darum ist die Botschaft des Reformationstages heute die Wiederentdeckung einer großen Zusage.
Wir sind die Gewinnerinnen und Gewinner der Gnade Gottes.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.