Aus Baar im Schweizer Kanton Zug überträgt der Deutschlandfunk am Sonntag, 17. November 2024, ab 10.05 Uhr einen Gottesdienst aus der Evangelisch-Reformierten Kirche. Die Stadt Baar wird in einem großen Bogen von dem Fluss Lorze umflossen. die im Ägerisee entspringt.
Wo entspringt das Leben? Pfarrer Manuel Bieler sagt in seiner Predigt: "Das Leben kann hart sein. Aber es entspringt nicht der Härte." Er orientiert sich an Jesus, der kein Verfechter moralischer Härte war. "Sein Weg war die barmherzige Weichheit." Das veranschaulicht die biblische Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin.
Musikalisch gestalten den Gottesdienst der Chor «vocal emotions» unter der Leitung von Lorenz Ulrich. Patricia Ulrich spielt am Klavier, Linda Egli an der Violine und Johannes Bösel an der Orgel.
Predigt nachlesen:
Die Frage nach Härte und Weichheit ist das Thema der heutigen Predigt.
Als Predigttext hören wir in der Übersetzung der Zürcher Bibel die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin, Johannesevangelium, Kapitel 8:
"Am frühen Morgen war Jesus wieder im Tempel, und das ganze Volk kam zu ihm. Und er setzte sich und lehrte sie. Da bringen die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden ist, stellen sie in die Mitte und sagen zu ihm: Meister, diese Frau ist beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt worden. Im Gesetz aber hat Mose uns vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Du nun, was sagst du dazu? Dies sagten sie, um ihn auf die Probe zu stellen, damit sie einen Grund hätten, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie immer wieder fragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie! Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Sie aber hörten es und entfernten sich, einer nach dem an-deren, die Ältesten voran, und er blieb allein zurück mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richte-te sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat keiner dich verurteilt? Sie sagte: Keiner, Herr. Da sprach Jesus: Auch ich verurteile dich nicht. Geh, und sündige von jetzt an nicht mehr!"
I
Liebe Gemeinde!
Mit Worten ein Leben retten. Das hat Jesus getan. Als eine Gruppe von aufgebrachten Männern drauf und dran ist, eine Ehebrecherin zu steinigen, ergreift er das Wort. Er sagt zu ihnen: «Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!» Diese Worte sind genial treffsicher. Sie zielen auf das Entscheidende. Ja, die Frau hat gegen eines der Zehn Gebote verstoßen. Deshalb wäre es nach damaligen Begriffen durchaus legal, sie durch Steinigung zu töten. Aber für Jesus ist es nicht entscheidend, ob sie gegen das Gesetz verstoßen hat. Das Entscheidende benennt er mit dem Wort ‘Sünde’. Für unsere heutigen Ohren ein fremder Begriff.
Mit Sünde ist nicht einfach ein Fehler gemeint. Ein Fehler kann nämlich eine ganze Bandbreite von Verfehlungen bedeuten. Da gibt es den Fehler beim Autofahren, wenn eine Verkehrsregel missachtet wird. Das kann unter Umständen schlimme Folgen haben. Ein Rechtschreibefehler schadet dagegen niemandem. Im Normalfall eine Lappalie. Was nun aber einen Fehler zur Sünde macht, ist, wenn der Fehler eine Beziehung zerstört. Sündhaft bedeutet beziehungszerstörend.
Entsprechend ist der Sinn der Zehn Gebote, die Beziehung zu Gott und zwischen den Mitmenschen zu schützen. Und die Rede von der Sünde will darauf hinweisen, dass wir Menschen letztlich aus Beziehungen leben. Das heißt: Unser Leben haben wir uns nicht selber gegeben. Es entsteht aus der Beziehung zweier anderer Menschen, unserer Eltern. Aber auch diese können ein Kind nicht einfach machen. Auch ihnen ist es geschenkt. Das menschliche Leben ist also nicht einfach beziehungslos da oder wird gemacht. Es ist verdankt und steht somit in einer guten, schöpferischen Beziehung. Sünde bedeutet das Zerstörerische gegenüber dem Beziehungsnetz, das unser Leben trägt. Mit Sünde ist also kein Moralismus gemeint, sondern die tragische Tatsache, dass wir Menschen immer wieder in Widerspruch zur Beziehungsstruktur unseres Lebens geraten und Unfrieden und Krieg anzetteln.
Der christliche Glaube dreht sich für mich letztlich um die grundsätzliche Einsicht, dass unser Leben in Beziehungen zwischen Menschen und mit Gott stattfindet. Gelingen solche Beziehungen, dann haben wir es mit Liebe zu tun. Vor diesem Hintergrund bekommt Jesu Aussage eine klare Kontur. Wenn er sagt: «Wer von euch ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein.» Dann sagt er damit: Wer das Leben dieser Frau zerstören will, soll zuerst auf sich selber schauen und beurteilen, ob er nicht selber zerstörerisch in zwischenmenschliche Beziehungen hineinwirkt. Denn tatsächlich bringen sie die Frau ja zu Jesus, um ihn auf die Probe zu stellen, in der Hoffnung, er mache irgendeinen Fehler, sodass sie ihn anklagen und ihm schaden können. Ihnen geht es überhaupt nicht um gute Beziehungen, sondern um Eigeninteresse. Die Ehebrecherin ist für sie nur Mittel zum Zweck. Jesus hat da einen ganz anderen Zugang. Und da wird’s interessant! Wie kann er es überhaupt wagen, ausdrücklich eines der Zehn Gebote einfach in den Wind zu schlagen? - Antworten zu diesen Fragen werden wir finden, wenn wir die Geschichte Jesu mit der Ehebrecherin nach der Musik weiter bedenken.
II
Entscheidend für unser Leben ist, wie wir Beziehungen leben.
Aber: so schlüssig und klar das auch tönt, so schwierig und fast unmöglich scheint das im menschlichen Alltag zu sein. Warum?! Was hindert uns Menschen daran, frei und liebevoll miteinander umzugehen? - Schauen wir, wie Jesus mit dieser Herausforderung umgeht.
Als nämlich die aufgebrachten Männer mit der ertappten Ehebrecherin zu Jesus kommen, testen sie ihn und sagen: Im Gesetz hat Mose uns vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Du nun, was sagst du dazu? Da reagiert Jesus irritierend: Er sagt nichts. Stattdessen bückt er sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Die Männer bleiben aber hartnäckig und bohren weiter nach. Da richtet Jesus sich wieder auf und sagt zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie! Dann bückt er sich wieder und schreibt weiter auf der Erde.
Warum tut er das? Schon der franziskanische Theologe Bonaventura aus dem Hochmittelalter wundert sich, warum Jesus so betont mit seinem Finger auf die Erde schreibt. Bonaventuras Antwort halte ich für treffend. Er sagt, Jesus gibt damit einen Hinweis auf die Zehn Gebote. Von diesen heißt es nämlich, dass sie vom Finger Gottes auf zwei Steintafeln geschrieben worden seien. Wenn Jesus also provokativ mit seinem Finger auf die Erde schreibt, ist das eine bewusste Zeichenhandlung:
So wie Gott die Zehn Gebote mit seinem Finger auf die Steintafeln geschrieben hat, so schreibt Jesus jetzt mit seinem Finger auf die Erde. Damit versinnbildlicht er seine göttliche Vollmacht. Aus dieser heraus ist er frei für einen neuen Zugang zu den Zehn Geboten. Er ignoriert also das Verbot des Ehebruchs nicht, sondern radikalisiert es. Wenn es den Zehn Geboten letztlich um Beziehungen geht, dann nimmt Jesus dieses Anliegen äußerst ernst. Sein Blick ist nicht hypnotisiert durch das Gebot, das die Frau zu einem Rechtsfall machen könnte. Nein, er ist frei, die Frau als Mensch zu sehen.
Diese Freiheit und Radikalität zeigen sich konkreter an einer Symbolik, die erst auf den zweiten Blick deutlich wird. Es hat mit dem Gegensatz von Stein und Erde zu tun. Die Zehn Gebote sind nämlich auf Steintafeln geschrieben. Und mit Steinen wollen die Männer dem Leben der Frau ein Ende setzen.
Die Erde ist im Unterschied zum Stein weich und sanft. Wenn man mit einer Hand voll Erde nach jemandem wirft, tötet das niemanden. Zudem kann man kein Leben in einen Stein pflanzen. In die Erde schon. Ja, im Buch Genesis ist sogar die Rede davon, dass der Mensch selber aus dem Staub der Erde gemacht sei. Sobald Gott das irdische Gebilde mit Lebensatem anhaucht, entsteht der lebendige Mensch. Mit seiner Zeichenhandlung bestreitet Jesus also, dass Gottes Wille einfach auf hartem und unfruchtbarem Stein geschrieben steht. Und vor allem, dass sich dieser Wille mit strenger Härte durchsetzen ließe. Nein, vielmehr steckt im Gesetz Gottes Wille zum Leben.
Darum sieht Jesus nicht nur die Frau. Auch seine Gegner, die Pharisäer und Schriftgelehrten, hat er im Sinn und sagt ihnen mit seiner Zeichenhandlung: «Ihr habt schon Recht: Die Frau hat Ehebruch begangen und gegen die Zehn Gebote verstoßen. Aber ihr habt ein Herz so hart wie der Stein, auf dem die Gebote geschrieben stehen. Da-mit erfüllt ihr die Gebote Gottes gerade nicht. Denn es geht nicht um den Stein, sondern um das, was die Gebote schützen: das Leben, das sich in Beziehungen ereignet und erfüllt. Dazu braucht es ein weiches Herz. So weich wie die Erde, auf die ich mit meinem Finger schreibe.»
III
Es gibt in der griechischen Mythologie eine Art Gegengeschichte zur Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin. Ich meine die Geschichte von Pygmalion. Er war ein berühmter Bildhauer und bewunderte die weibliche Schönheit.
Aber er fand alle lebenden Frauen zu unvollkommen. Daher hatte er beschlossen, sie nicht mehr zu lieben. Stattdessen versuchte er eine perfekte Frau als Skulptur zu schaffen. Schließlich gelang es ihm, und er verliebte sich in sein Werk, die ideale Schönheit einer Frau aus Stein. In seiner Liebe wandte er sich an die Göttin Aphrodite und bat sie darum, dass der Stein lebendig werde. Aphrodite gewährte ihm seinen Wunsch und erweckte den Stein zum Leben.
In dieser Geschichte steckt die Idee, dass es möglich sein könnte, ein Ideal zum Leben zu erwecken. Der Preis dafür ist zuerst einmal die Ablehnung der Realität: Das, was ist, ist nicht gut genug. Jesus sieht das gerade umgekehrt. Er geht davon aus, dass das Gute aus dem entsteht, was da ist. Nicht das unbarmherzig-unerreichbare Ideal muss wie bei Pygmalion lebendig werden. Sondern gerade die unvollkommene menschliche Realität weckt Kräfte, die zum Guten wirken können.
Der vorher erwähnte Theologe Bonaventura veranschaulicht das bei seinem Nachdenken über die Geschichte von Jesus mit der Ehebrecherin sehr schön. Er benutzt dazu die lateinische Sprache. Er sagt: Aus miser, der Misere, dem menschlichen Elend, entsteht misericordia, Barmherzigkeit. Die menschliche Unvollkommenheit kann Kräfte des Erbarmens wecken, wie sie das kühle Ideal gar nicht kennt. Das ist für Jesus der Weg des Lebens und der Liebe: Sich einlassen auf die menschliche Realität in ihrer Unvollkommenheit und Hilfsbedürftigkeit. Das klingt nicht so heroisch ideal. Aber es ist Boden für echtes Leben, für Neuwerden und Wachstum. Anders als für Pygmalion ergibt sich für Jesus das Leben nicht aus der steinernen Härte eines Ideals. Nein, wie beim Atmen geht es für ihn um Weichheit, die entschieden für das Lebendige einsteht. Weichheit verbindet und schafft Beziehung. Im weichen
Lebensatem sind Innen und Außen, ich und du, Mensch und Gott verbunden.
Liebe Gemeinde, das Leben kann hart sein. Da müssen auch wir manchmal zum Selbstschutz hart sein. Und im Leben macht man Fehler und verletzt die eine oder andere Beziehung. Entscheidend ist, dass wir selbst nicht völlig verhärten und in die vermeintlich schützende Härte von irgendwelchen abgehobenen Idealen fliehen. Im Buch Genesis haucht Gott dem zum Menschen geformten Erdklumpen Leben ein. Aus dieser geistigen Feinheit, die das Irdische und Körperliche durchwirkt, leben wir. Und in dieser weichen Feinheit findet die Beziehung statt, die Jesus Liebe nennt.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.