Das Wort zum Sonntag: "Mutig, offen und weitsichtig" – Zum Tode Carlo Maria Martinis
Pastor Gereon Alter
08.09.2012 21:25

"Endlich spricht es einer aus!"

 

"Endlich sagt mal jemand, was er denkt!"

 

"Endlich wagt mal einer etwas Neues!"

 

Sie alle kennen solche befreiende Momente. Da kommt ein Gespräch einfach nicht voran, weil alle irgendwie befangen sind. Der eine will niemanden verletzen, der andere will die Mehrheit hinter sich halten, der Dritte schielt auf seinen Vorgesetzten und der Vierte hat einfach nur Angst. Alle nehmen Rücksicht und taktieren. – Und dann sagt doch einer, was er wirklich denkt. Und es ist zu spüren, dass er nicht bloß provozieren will, sondern einfach nur ehrlich ist und den Mut besitzt, seine eigene Meinung zu sagen.

 

Ein solcher Mensch geht mir seit einigen Tagen durch den Kopf. Dabei bin ich ihm nur ein einziges Mal persönlich begegnet. Vor vielen Jahren im Studium. Er war das, was man einen "kirchlichen Würdenträger" nennt. Und trotzdem hatte er eine eigene Meinung. Das allein schon hat mich beeindruckt. Aber noch mehr hat mich beeindruckt, wie er zu dieser Meinung gekommen ist. Er hat immer wieder das Gespräch mit Andersdenkenden gesucht. Mit Menschen, die völlig anders lebten und dachten als er selbst.

 

Zum Beispiel mit Jugendlichen. Regelmäßig hat er sich mit ihnen getroffen. Nicht in einer Kirche oder einem Kloster: auf der Straße, im Gefängnis, in einer Drogenberatungsstelle. Er wollte mitbekommen, wie es ihnen geht. Und er wollte ihre Fragen hören. Denn eine Kirche, die nicht auf die Fragen der Menschen hört, war in seinen Augen nutzlos. Genauso hat er das Gespräch mit Vertretern anderer Religionen gesucht, mit Zweifelnden, mit Nichtglaubenden. Mit einem der profiliertesten Agnostiker unserer Zeit, also einem, der nicht glauben kann und will, hat er ein wunderbares Buch geschrieben.

 

Ich spreche von Carlo Maria Martini, dem langjährigen Erzbischof von Mailand. Er ist am vergangenen Wochenende im Alter von 85 Jahren gestorben. Ich bin traurig, dass er nicht mehr da ist. Denn Menschen wie ihn brauchen wir heute mehr denn je. Menschen mit einem klaren Geist, mit Mut und vor allem mit der großen Weite, die er hatte. Martini galt lange Zeit als Kandidat für das Papstamt. Dann ist er es aus gesundheitlichen Gründen nicht geworden. Wie sähe die Katholische Kirche heute aus, wenn er Papst geworden wäre?

 

Wenige Wochen vor seinem Tod hat er einer italienischen Tageszeitung ein letztes Interview gegeben. "Gibt es für die Kirche eine Hoffnung?" war die Frage. Martinis Antwort: "Ich sehe soviel Asche, die in der Kirche über der Glut liegt, dass mich manchmal Hoffnungslosigkeit bedrängt. Als erstes müssen wir die Glut aufspüren. Wo sind einzelne Menschen, die helfen wie der barmherzige Samariter? […] Die begeistert sind wie Johannes der Täufer? Die Neues wagen wie Paulus? Und die treu sind wie Maria von Magdala?"

 

Und dann, ganz konkret: "Ich empfehle dem Papst und den Bischöfen, in ihre Leitungsgremien zwölf ungewöhnliche Menschen aufzunehmen. Menschen, die bei den Ärmsten sind, Jugendliche um sich haben und Experimente machen. Es braucht die faire Auseinandersetzung mit Menschen, die brennen, damit der Geist wehen kann."

 

Solche Menschen braucht nicht nur die Katholische Kirche. Wir brauchen sie auch in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien. Menschen, die Mut zu einer eigenen Meinung haben und die willens und in der Lage sind, über ihren eigenen Kirchturm hinaus zu schauen. Carlo Maria Martini ist tot. Aber er hat Spuren gelegt. An uns ist es, diesen Spuren weiter zu folgen. Mutig, offen und weitsichtig.

Sendeort und Mitwirkende

Angelika Wagner (WDR)