Das Wort zum Sonntag: 23.11.2013 Pfarrer Michael Broch
Ein Ort für meine Tränen
23.11.2013 22:05

Hinweis für Hörgeschädigte:

„Diese Sendung wird für hörgeschädigte Menschen mit

Videotext-Untertiteln Tafel 150 ausgestrahlt.“

 

 

In Deutschland sterben jedes Jahr achthunderttausend Menschen, achthunderttausend Menschen! Das wird mir am Totensonntag wieder bewußt. Der alte Mann, der lebenssatt sterben kann. Die junge Mutter, die der Krebs aus ihrer Familie reißt. Der junge Mann, der die Kontrolle über sein Motorrad verliert. Das Kind, das keine Lebenschance hat. Der Tod befindet sich nicht am Rand der Gesellschaft. Er ist mitten drin in unserem Alltag. Auf einmal ist nichts mehr, wie es war, und jedesmal trauern Menschen. Wo finde ich einen Ort für meine Tränen? Wie einen Weg zu trauern?

 

In meinem Wohnort gibt es auf dem Friedhof einen “Trauerweg”. Einen richtigen Weg. Symbolisch werden mehrere Stationen der Trauer dargestellt. Der Weg beginnt damit, dass ich durch die Tür in ein echtes Haus eintrete, in das so genannte “Lebenshaus”. So ist mein Leben, wenn alles gut läuft. Stabil auf gutem Fundament.

 

Doch dann tritt der Tod in mein Leben. Plötzlich ist nichts mehr wie es war. Der Lebensinhalt ist weg. Auf dem Trauerweg erinnert ein “Scherbenhaufen” daran. – Ist alles ausweglos? Oder geht es weiter? Und wie geht es weiter?

 

Dann stehen vor mir auf dem Trauerweg schwarze Säulen, doch die Wegweiser daran verwirren. Immer wieder dieselben Stichwörter, doch die zeigen in gegensätzliche Richtungen: nach oben und nach unten, nach rechts und nach links, vor und zurück. Die Stichwörter: Schmerz – wohin führt er mich? Angst – wohin treibt sie mich? Panik – wie stark bedrängt sie mich? Dazu gehören auch starke Gefühle wie Wut und Klage.

 

Auf meinem Weg der Trauer kann ich von den Säulen auch einen Schritt zur Seite gehen und gelange in eine Oase der Stille. Ein runder Raum, die Wand aus Holzbrettern ist durchlässig. Ich sitze auf der Bank vor einem kleinen Blumenbeet. Hier fühle ich mich geborgen. Hier kann ich unbeobachtet weinen. Jeder geht mit seiner Klage anders um. Jeder hat seine eigene Geschwindigkeit. Jeder erträgt anders. Einer stürzt sich in noch mehr Arbeit. Ein anderer lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Einer versucht, mit dem Verstand die Situation zu meistern. Oder ich vermeide das alles und haue ab.

 

Aber irgendwann muss ich mich der Trauer stellen, den Schmerz und die Leere zulassen. Versuchen, den Verlust eines lieben Menschen anzunehmen. Wenn ich das immer wieder schaffe, dann kann sich meine Trauer nach und nach verwandeln: In eine neue, andere Lebendigkeit.

 

Ein Trauerweg, wie der in meinem Heimatort, kann da eine gute Hilfe sein. Wer einen solchen Weg nicht in seiner Nähe hat, der kann sich in seinem Umfeld Orte der Trauer schaffen: An einem bestimmten Platz in der Wohnung, im Haus, in der Natur oder am Friedhof. Egal wo, Hauptsache, es hilft, den eigenen Trauerweg zu finden. Ich wünsche, dass niemand diesen Weg alleine gehen muss. Eine Freundin, ein Freund kann ein guter Wegbegleiter sein. Jemand hat Freundschaft in dieses Bild gebracht: “Freundschaft ist das Seil, das hält, wenn alle Stricke reißen.”

 

Als Christ vertraue ich auch in Zeiten der Trauer auf Gott, den Freund des Lebens. Ich vertraue darauf, dass er Leben schenkt über den Tod hinaus. Wie das sein wird, weiß ich nicht. Aber ich ahne etwas ganz Großartiges, etwas unvorstellbar Schönes. Wie wenn sich ein wunderbarer Sonnenaufgang ankündigt, die Sonne aber noch nicht da ist.

 

 

 

Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag.

Sendeort und Mitwirkende

SÜDWESTRUNDFUNK


 

Kontakt zur Sendung

SÜDWESTRUNDFUNK

Religion, Kirche und Gesellschaft
Postfach 10 60 40
70049 Stuttgart