Morgenandacht
Nach draußen
03.01.2015 05:35

Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Das ist ein Satz voller Optimismus und Lebensmut, voll Zuversicht und Fröhlichkeit.

 

Er steht mitten in einem biblischen Psalm, dessen Grundton allerdings melancholisch ist: Ein Mensch klagt, ist voller Angst und Schmerz, fühlt sich vergessen, sein Leben ist bedroht. Wodurch sich dieser Mensch bedroht fühlt ist nicht ganz klar - durch einen Feind, durch Krankheit? Oder ist die Krankheit der Feind? Klar aber ist: Diesem Menschen steht das Wasser bis zum Hals und er ruft um Hilfe. „Errette mich, neige dein Ohr zu mir, hör mir zu. Sieh mein Elend an“, fleht er - und immer wieder: Ich habe Angst. Mein Leben hat abgenommen vor Seufzen. Meine Kraft ist verfallen. Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß. Zerschlagen. Man kann so ein zerschlagenes Gefäß wieder notdürftig zusammenleimen. Aber: niemals wird es wieder so heile, wie es war.

 

Das Leid ist monoton. Es braucht nicht viele Worte, dieser Mensch hat auch keine Kraft mehr, lange an den Sätzen herum zu feilen. Immer geht es um Schmerz und Angst. Und auch darum, wie andere mit diesem Elend umgehen. Er klagt: „Es geht mir so übel, dass ich meinen Nachbarn eine große Schmach geworden bin und eine Scheu meinen Verwandten; die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir.

 

Es ist so - nicht alle ertragen den Anblick von Kranken. Viele möchten am liebsten an der Schwelle zum Krankenzimmer umkehren. Kranke erinnern daran: das Leben ist begrenzt, der Körper fragil, und mir könnte es so ergehen wie ihm. So kommt bei Kranken zum Schmerz und zur Angst auch noch das Gefühl, verlassen zu sein. Im Stich gelassen zu sein. Von den Menschen und von Gott. Und wenn der, dem es so geht, der so krank ist, eines nicht denkt in diesem Moment, dann: dass seine Füße auf weitem Raum stehen.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – wer denkt so, wenn er es nicht mehr alleine vom Bett bis zur Toilette schafft? „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – wer mit seiner Sauerstoffflasche gerade eben den Krankenhausflur auf und abgehen kann, dem traut man dieses Gefühl nicht zu. Und doch erfahre ich in der Klinik dieses Psalmwort immer wieder: mitten in der Angst und dem Schmerz von Patienten. Menschen, deren Lage so aussichtslos erscheint, die so hilflos geworden sind, und die mit ihrer Krankheit jede Bewegungsfreiheit eingebüßt haben vermitteln etwas von diesem wunderbaren Satz: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“.

 

Eine Patientin sang wenige Stunden vor ihrem Tod „Geh aus mein Herz und suche Freud“. Das war herzzerreißend traurig und schön. Eine andere tröstete ihre Kinder und Enkel, die um ihr Krankenbett standen und weinten. Ein sterbenskranker Patient begrüßte die Ärztin mit der Frage: Wie geht es Ihnen? Und eine betagte, fromme Patientin erklärte mir: sie wüsste genau, wie es um sie steht. Im süddeutschen Dialekt sagte sie: Jetzt ginge es bald „Nauszus“, nach draußen, ins Offene, Weite.

Da, wo manche nur noch eine Sackgasse sehen, ein schwarzes Loch, eine Wand, gegen die sie in ihrer Angst immer wieder anlaufen, da sah sie einen Ausweg, etwas Befreiendes. Auf sie warte ein Leben bei Gott, mit dem verglichen das Leben, das sie kennt, das Leben hier mit einem für alles mögliche anfälligen Körper, nur eines in einer beengten Behausung ist.

 

In Gedanken, in dem, was sie hoffte und glaubte, in der Art, wie sie sich zu ihrem unabänderlichen Schicksal stellte, ging diese Frau weit über sich und ihre trostlose Lage hinaus. „Nauszus“, in etwas ermutigendes Neues.

Trotz aller Einschränkungen, trotz aller Krankheit, aller Schmerzen und Angst: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ bleibt auch am Ende ein Satz voller Zuversicht.