Wie sieht die Lebensbilanz aus, wenn man älter wird? War alles nur Arbeit und Mühe?
Die Sendung zum Nachlesen:
"Unser Leben wäret 70 Jahre, und wenn‘s hochkommt, so sind‘s 80", höre ich mich sagen. Ich stehe am Rednerpult in der alten Friedhofskapelle. Gleich vor mir sitzt die Familie des Verstorbenen. Viele sind über 60 oder in den 70ern. Da stehe ich, lese diesen Satz aus der Bibel und spüre, wie jung ich bin mit meinen damals 30 Jahren. Nicht einmal halb so alt, wie der Psalm die Spanne eines Lebens beschreibt. 70 Jahre, 80 Jahre… Geht mich, die damals junge Frau überhaupt an, was ich vorlese? Wie der Beter dieses Psalms das Leben sieht von seinem Ende her? "Und was daran köstlich war, ist Mühe und Arbeit gewesen", lese ich. Es geht um die Frage, was Leben ausmacht. Wofür es sich gelohnt hat und was daran köstlich ist. Ist das alles am Ende nur Arbeit und Mühe?
Alltag und Leuchttürme
70 Jahre - so alt bin ich inzwischen selbst. Wie sieht meine Bilanz aus? Ich denke an Gemeindefeste und Kirchentage, an den Quartierladen in meinem Stadtteil, an dem ich als Pastorin mitgewirkt habe, und die vielen Begegnungen dort, an die Zukunftsforen im Kaiserswerther Krankenhaus, an impulsreiche Ehrenamtskongresse. Ich freue mich über das, was möglich war. Lauter kleine Leuchttürme.
Der Psalm als mein biblischer Gesprächspartner hat aber wohl einen anderen Blick. Ihm kommt es nicht auf die Leuchttürme an, nicht auf die Besonderheiten. Ihm geht es um das, was den Alltag leuchten lässt, was jedem Tag seinen Geschmack gibt. Wie das kräftige Stück Brot, das ich heute Morgen zum Frühstück esse. Nur mit Butter bestrichen, schmeckt es einfach köstlich. Die nüchterne Kraft von frischem Brot – ich genieße sie jeden Morgen, bevor ich an den Schreibtisch gehe.
Was ohne Arbeit fehlt
"Der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen", soll Martin Luther gesagt haben. Wer schon einmal eine Stelle verloren oder einen großen Berufswechsel erlebt hat, wer in Rente gegangen ist, weiß, wie sehr Arbeit unser Leben prägt. Sie gibt dem Alltag Struktur und Halt. Sie bindet uns ein in ein Beziehungsgeflecht. Und, ja, Arbeit macht uns satt.
Immer nur Urlaub – das kann es nicht sein. Etwas Entscheidendes würde fehlen. Der Duft aus der Teeküche, die Kollegin, die schon den ersten Kaffee gekocht hat, ein kurzer Austausch und vor dir entfaltet sich der Tag. Du öffnest den Laptop, die kleine Melodie ist zu hören und du bist bereit für neue Aufgaben. Fünf Tage die Woche – vielleicht auch nur ein Minijob.
Gerade im Alter, mit 60 oder auch mit 70 möchten wir selbst bestimmen, wieviel Zeit wir investieren und für was. Dieser Tage lud Gabriele, eine Freundin, zu ihrer Vernissage ein. Ihre Bilder und Skulpturen sind immer voller Geheimnisse. Ab und an leuchten sie golden. Gabriele hat Kunst unterrichtet. Aber damit sie vor ein paar Jahren aufgehört. Früher hatte sie zwei Ateliers, eins in Berlin, eins in Düsseldorf. Nun konzentriert sie sich auf Düsseldorf, wo sie auch wohnt. Das sah nach Rückzug aus. Sie hat einiges aufgegeben. Aber: Sie lädt zur Vernissage ein und zeigt ihre Kunstwerke. Die Lust am Gestalten hört nicht auf.
Loslassen und sich konzentrieren
"Fange nie an aufzuhören! Höre nie auf anzufangen!" heißt ein Sprichwort. Gabriele ist ein gutes Beispiel. Sie verabschiedet sich von Dingen und gewinnt dadurch Raum für Neues: ein neuer Stil, neues Material, eine weitere Ausstellung. Dazu braucht man die innere Aufmerksamkeit für das, was dran ist. Für die Veränderungen in der Gesellschaft, den Wandel im eigenen Leben.
Mit 70, mit 80 fühlt man sich eben anders als mit 30 oder 40. Dann ist es richtig, manches loszulassen, sich zu konzentrieren auf das, was wirklich zählt. Überall begegnen mir Menschen, die in diese Richtung unterwegs sind. Mehr als 14 Prozent der Rentner und Rentnerinnen arbeiten – im alten Job oder in einem ganz neuen. Und fast die Hälfte der Boomer-Generation kann sich vorstellen, im Ruhestand weiter zu arbeiten. Und dabei geht es nicht nur um die Vergütung. Sie wissen, wie köstlich Arbeit sein kann.
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