Fast jede:r Zweite in Deutschland engagiert sich ehrenamtlich. Aber viele von ihnen erleben zunehmend Druck und manchmal sogar Aggression. Dabei sind sie es, die mit "Herz und Mund und Tat und Leben" die Gesellschaft zusammenhalten.
Sendetext nachlesen:
"Die Gesellschaft lebt davon, dass Menschen tagtäglich füreinander da sind. Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer schenken etwas von ihren Fähigkeiten, ihrem Wissen, ihrem Können, ihrem Sachverstand, ihrer Herzlichkeit, ihrer Zeit. Sie tun dies freiwillig und leisten so einen wesentlichen Beitrag zu einer Kultur der Menschlichkeit in der Gesellschaft." Das sind die ersten Sätze aus den Leitlinien des Erzbistums Köln zum Ehrenamt. Aus meiner langen Erfahrung als evangelische Pfarrerin kann ich diese Beschreibung bestätigen.
Wer ehrenamtlich tätig ist, bringt das ganze Leben mit. Hier geht es nicht nur darum zu funktionieren. Viele sind auf der Suche nach Sinn. Oder sie wollen anderen weitergeben, was sie selbst ausfüllt, was sie trägt. Für andere da zu sein, tut der eigenen Seele gut. Was ich kann und habe, wovon ich begeistert und überzeugt bin, das will ich teilen und weitergeben.
In alten Worten drückt das eine Kantate von Johann Sebastian Bach so aus: "Herz und Mund und Tat und Leben muss von Christus Zeugnis geben." Tatsächlich: Wovon ich überzeugt bin, das hat Auswirkung auf mein Handeln. Mein Tun kann reden. Mein Glaube prägt die Art und Weise, wie ich die Gesellschaft mitgestalte. Darin soll Jesus spürbar werden. Er hat die Ausgestoßenen an den Tisch geholt und die Kinder gesegnet.
Eine meiner Nachbarinnen engagiert sich in der Grundschule nebenan. Sie war selbst lange Lehrerin. Sie weiß, wie es den Kindern geht, die sich mit dem Lesen und Schreiben schwertun. Weil sie zugewandert sind oder weil die Eltern keine Zeit haben, sie zu unterstützen. Deshalb engagiert sie sich in ihrem Ruhestand sich für die Schülerinnen und Schüler. So wie andere beim Besuchsdienst in der Gemeinde oder beim Mittagstisch für Einsame.
"Ich habe die Erfahrung als Lehrerin, dass es sehr schwer ist, mit einer großen Klasse auf unterschiedlichem Niveau alleine zurecht zu kommen. Als Schulleiterin und Lehrerin habe ich mir gesagt: Wenn ich im Ruhestand bin, möchte ich gern ein bisschen helfen, aktiv sein – und was ist besser als eine Schule nebenan? Ich konnte dahin gehen und sagen: Braucht ihr Hilfe? Und so habe ich das gemacht und helfe an zwei Tagen voll im Unterricht mit – und nicht nur als Lesepatin. Man sieht auch, wie schön es ist, wenn die Kinder meine Hilfe annehmen. Ich komme rein, und dann gehen gleich die Finger hoch: Kannst du mir helfen, kannst du mir helfen? Das ist für die Lehrerin ein Geschenk und für mich eine wunderbare Tätigkeit, einfach gebraucht zu werden - und außerdem macht es mir Spaß."
"Das tollste Engagement ist, als Mentor:in einen kleinen Menschen über mehrere Jahre zu begleiten", sagt der Migrations- und Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani. "Das ist gar nicht so aufwändig und etwas, was sinnstiftend ist, Freude bereitet und gleichzeitig von enormem Wert für die Gesellschaft insgesamt ist."
Wir erleben jetzt den demographischen Wandel, der seit vielen Jahren angekündigt wird. Die Babyboomer gehen in Rente; der Fachkräftemangel wird spürbar. Das macht Druck – nicht nur auf Arbeitslose und Geflüchtete, sondern auch auf Frauen und Familien. Die Erwerbsquote soll steigen, um Wirtschaft und Sozialsystem fit zu halten. Nicht zuletzt im Blick auf die Renten.
Die Generation "Silver Ager", die jetzt in den Ruhestand geht, ist körperlich und mental die fitteste Rentnergeneration in unserer Geschichte. Ältere sind also keineswegs nur ein Problem, weil sie irgendwann Unterstützung brauchen. Sie stehen auch für neue Lösungen. Der Soziologe El-Mafaalani meint sogar: "Wenn diese Generation jetzt einfach in den Ruhestand geht und sich nicht mehr engagiert für andere gesellschaftliche Bereiche, dann glaube ich nicht, dass es überhaupt funktionieren kann."
Aber so ist es ja auch nicht. Ganz im Gegenteil. Viele engagieren sich weit über das Ruhestandsalter hinaus als Mitarbeitende an der Tafel, in der Hospizarbeit oder als Lesepatin. Mit großer Verlässlichkeit und oft jahrelang. Als während der Pandemie keine ehrenamtlichen Besuchsdienste in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen mitarbeiten durften, als Tafeln schließen mussten, weil die meisten Mitarbeitenden über 60 waren, da wurde deutlich, was ohne dieses Engagement fehlt.
Auch in den Schulen werden mehr Freiwillige gebraucht. Wenn sich nur jede zehnte Person aus den geburtenstärksten Jahrgängen in Kita oder Grundschule engagieren würde, wären das mehr als alle Erzieher:innen und Grundschullehrkräfte zusammen. Dem Soziologen El-Mafaalani schwebt eine Organisation vor, die möglichst viele Schulen erreicht. Also Ansprechpartner in jedem Quartier, in jeder Stadt. Ehrenamtsverträge mit den Schulen. Ganz schön viel Bürokratie. Andererseits: Ich kenne das Ehrenamt in Kirche und Diakonie. Ich weiß: Vieles muss geregelt werden, wenn alle zufrieden sein sollen.
Die großen Initiativen sind oft von Einzelnen inspiriert worden. Der evangelische Theologe Johann Hinrich Wichern gründete im Hamburg des 19. Jahrhunderts das "Rauhe Haus" für verwahrloste Kinder. Er setzte damit gleichzeitig einen Anfang für die neuzeitliche Diakonie. Henry Dunant gründete das Rote Kreuz, und Cecily Saunders brachte die Hospizbewegung in Gang. Heute sind daraus große Organisationen und Netzwerke geworden. Wer sich angesprochen fühlt, kann sich beteiligen - mit Spenden, aber auch mit Zeit.
Freiwilligenagenturen helfen Interessierten, den Ort zu finden, wo sie gebraucht werden. Es gibt so viele Möglichkeiten. Nicht zu vergessen das traditionelle Ehrenamt in Kirchen, Diakonie und Caritas. Mehr als die Hälfte aller Kirchenmitglieder engagieren sich - in und auch außerhalb der Kirchen.
Spätestens mit Corona haben auch die Kirchen gelernt: Das traditionelle Ehrenamt braucht neue Formen. Ältere Ehrenamtliche, deren Arbeit jahrelang selbstverständlich schien, kamen nach der Pandemie nicht mehr zurück. Sie waren erschöpft, und nicht wenige fühlten sich alleingelassen. Das neue Ehrenamt ist projektorientiert. Es hat also einen Anfang und ein Ende, braucht klare Zeitvorgaben, eine Ansprechpartnerin in der Leitung, Auslagenvergütung sowie Fortbildung und Supervision, wenn nötig. Inzwischen wird das immer selbstverständlicher.
Fast die Hälfte der Gesellschaft engagiert sich. Wie kommt es dann, dass immer wieder Organisationen klagen, sie fänden keine Ehrenamtlichen mehr? Für die Arbeit in der Kommune, in der Kirche, im Sportverein. Offenbar haben viele das Gefühl, die Strukturen seien zu starr. Die Verwaltung schränke die Ehrenamtlichen ein, die Bürokratie sei überbordend. Die gesellschaftliche Anerkennung aber reiche bei weitem nicht. Das spüren vor allem die Ehrenamtlichen bei der Feuerwehr oder in den Rettungswagen. Sie retten Leben. Aber sie werden immer wieder tätlich angegriffen.
Die großen Organisationen sind das eine. Aber die vielen kleinen Initiativen sind oft schneller. Bei der Überflutung an der Ahr nahmen manche ihren Jahresurlaub, stellten ihren Camper in der Nähe auf und taten, was sie konnten: Straßen freischaufeln, Häuser entschlammen, neue Fenster einbauen. Sie brachten Kirchen und Friedhöfe wieder instand, sorgten für Beratungsräume und Seelsorge, wenn die Engagierten ausgebrannt waren. Sie organisierten mitten im Chaos einen Weihnachtsmarkt.
Hier kommt eine ganz andere Art von Ehrenamt ins Spiel: Das spontane Engagement, für das Menschen sehr viel Zeit und Energie geben. Nicht nur an der Ahr, auch an den Grenzen zur Ukraine. Viele fuhren mit dem eigenen Wagen dorthin, brachten Lebensmittel, Decken, Heizkörper – und nahmen Geflüchtete mit nach Hause. In München und Berlin gab es sehr schnell Websites, auf denen man Ansprechpartner finden und sich eintragen konnte. Keine Bürokratie, aber ein Gespür für das, was Menschen brauchen und was sie geben können. Lebendiger Sozialstaat. Mit Herz und Verstand und mit politischem Bewusstsein.
Mit Herz und Verstand und mit politischem Bewusstsein. Zum Beispiel die "Omas gegen rechts". Die Initiative startete in Österreich, aus dem spontanen Gefühl, etwas tun zu müssen gegen den sich ausbreitenden Rechtsnationalismus. Die Gruppe wird sichtbar, wo immer es um die Zukunft der Demokratie geht. Inzwischen tragen sie Westen, an denen man sie erkennt. Blau auf Weiß. So eine hat auch meine Nachbarin. Ich habe sie gefragt, wie sie zu den "Omas gegen Rechts" gekommen ist.
"Eines Tages bekam ich eine Email. Dann habe ich gesagt, ich gehe mal zur Mitgliederversammlung. Wir bilden viele Arbeitsgruppen wie zum Orange Day oder zur Verlegung von Stolpersteinen. Also wirklich nicht gegen Rechts, sondern gegen rechtsradikal."
Leider wurden auch die "Omas gegen Rechts" im Frühjahr mit Fragebogen der Union an die damalige Bundesregierung konfrontiert. 551 Fragen, davon 24 zu den "Omas gegen Rechts". Der Verdacht: Sie nähmen Steuergeld aus dem Demokratieprogramm, seien aber nicht neutral. Wer sich an Demonstrationen gegen Rechtsextremismus beteilige - und das waren Anfang des Jahres viele, auch die Kirchen -, der sei möglicherweise nicht loyal zum Staat.
Ich sehe das umgekehrt. Der Staat braucht eine lebendige und vielfältige Zivilgesellschaft. Demokratie muss gelebt werden. Gesetze allein genügen nicht. Darum sollen Politiker und Politikerinnen die zivilgesellschaftliche Arbeit ermutigen, statt Initiativen mit Misstrauen unter Druck zu setzen. Zumal die Omas gegen Rechts vor Ort alles aus eigener Tasche finanzieren: Sie geben nicht nur Zeit, sondern auch Geld.
Der demokratische Staat lebt davon, dass Bürgerinnen und Bürger für ihre Überzeugung einstehen. In Parteien, Kommunen, Kirchen, Vereinen und Initiativen. Johann Hinrich Wichern, der evangelische Theologe, der sich im 19. Jahrhundert für Kinder in sozialer Not einsetzte, hat Diakonie so verstanden: Diakonie ist nicht nur eine Organisation, sondern eine bürgerschaftliche Aufgabe.
Engagement ist ein Lebensstil. Im Ehrenamt bringen Menschen sich selber ein. Und das strahlt aus in Familie, Arbeit und Nachbarschaft, in die Gesellschaft. Da sind wir alle gefragt - nicht nur Christinnen und Christen. Mit Herz und Mund und Tat und Leben.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. J. S. Bach, Kantate "Herz und Mund und Tat und Leben", BWV 147
2. Times they are a changing
3. Bridge Over Troubled Water
4. S. Bach, Kantate "Herz und Mund und Tat und Leben", BWV 147
Literatur dieser Sendung:
1. Leitlinien zum Ehrenamt des Erzbistums Köln
https://www.erzbistum-koeln.de/export/sites/ebkportal/kultur_und_bildung/erwachsenen_und_familienbildung/.content/.galleries/downloads/Leitlinien_Ehrenamt_Final
2. BRIGITTE 15.5.25
https://www.brigitte.de/aktuell/gesellschaft/aladin-el-mafaalani---das-tollste-engagement-ist--einen-kleinen-menschen-zu-begleiten--13945666.htmlhttps://www.brigitte.de a.a.O-