Morgenandacht
Gemeinfrei via unsplash/ Michael Dziedzic
Mut, der die Angstmacher auslacht
Morgenandacht von Pastorin Cornelia Coenen-Marx
23.05.2024 06:35

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Was für ein Mut! Ich musste immer wieder hinschauen, wie bei Nawalnys Beerdigung Anfang März die Menschenschlange länger und länger wurde. Männer und Frauen, junge und alte Leute. Da standen sie mit ihren Blumen vor dem Friedhofstor. Trotz Verboten und Überwachungskameras. Lange war gar nicht klar, ob eine öffentliche Trauerfeier überhaupt stattfinden konnte. Die Behörden suchten das zu verhindern, und nur ein einziger Bestatter in Moskau war bereit, den Sarg aus der Strafkolonie zu überführen und die Beerdigung zu organisieren. Aber Nawalnys Mutter gab nicht auf. Und sie setzte sich am Ende durch. Schließlich war diese kleine Gemeinde bereit zu einem kurzen Gottesdienst für den gläubigen Alexei.

Als der Sarg zur Kapelle gefahren wurde, war er mit den Blumen seiner Anhänger fast eingedeckt. Und dann fanden sie auch ihre Stimme. Sprechchöre waren zu hören. „Wir haben keine Angst!“ Und: „Wir werden nicht vergeben.“ Bis zum Abend riss der Strom der Menschen nicht ab, die Blumen und Briefe an seinem Grab niederlegten - lange über die abendliche Sperrstunde hinaus.

Vor ein paar Tagen, an Pfingsten, musste ich wieder daran denken. Die Freunde Jesu, die sich nach seinem Tod und seiner Himmelfahrt tagelang verkrochen hatten – stumm und zitternd vor Angst, spürten plötzlich neue Energie, neue Lebendigkeit. Sie fanden ihre Sprache wieder, gingen raus auf die Straßen Jerusalems und erzählten von Jesus, von seinen großen Taten und den kleinen Wundern. Begeistert, als hätten sie es eben erst erlebt. Und dann hielt Petrus diese Rede. Eine mutige Rede.

Er spricht von Jesu Tod. Von seiner Kreuzigung. Ja, er spricht sogar darüber, wer Schuld hat. „Jesus von Nazareth von Gott unter euch ausgewiesen durch mächtige Taten und Wunder, wie ihr selbst wisst – diesen Mann habt ihr durch die Hand der Ungerechten ans Kreuz geschlagen und umgebracht“, steht in der Bibel. Wirklich? Das waren doch die Römer, das war doch Pilatus, der dann seine Hände in Unschuld wusch.

„Ja, aber ihr habt sie machen lassen.“ Die schweigende Mehrheit – unschuldig ist sie nicht. Bis gestern hätte Petrus nicht gewagt, so zu reden – viel zu groß war seine Angst. Aber jetzt ist alles anders. Er hat gerade Gottes Geistkraft wie einen Sturm erlebt, der alles mit sich riss, das Licht von oben über den Köpfen von Jesu Jüngern wie Flammen, die den dunklen Raum erleuchteten, die Kraft, die sie aufgerichtet hat. Die Todesangst war verschwunden - wovor sollten sie sich fürchten?

„Danke für alles, Alexei“ steht auf einem Brief an Nawalnys Grab. „Wir werden dich nicht vergessen und wir haben keine Angst.“ Darunter: „Orthodoxe Christen gegen den Krieg“. Der Brief liegt noch nicht lange dort. Ende März sind sie noch einmal zum Friedhof gekommen - 40 Tage nach Nawalnys Tod, wenn sich die Seele nach orthodoxem Glauben endgültig vom Körper trennt.

„Danke, mein Präsident, wir geben nicht auf“, hat ein anderer geschrieben. Tatsächlich - mit Nawalnys Tod war die Bewegung nicht vorbei. Die Menschen folgten seinem Aufruf am Wahlsonntag Mitte März. Überall in Russland gingen sie um 12 Uhr zu den Wahllokalen und bildeten dort immer neue Menschenschlangen. Papiere wurden kontrolliert. Videos ausgewertet, Verhöre fanden statt - aber von Angst war nichts zu spüren.

Ich bewundere diese Menschen, die dem Diktator Putin ins Gesicht lachen. Die der Wahrheit treu bleiben und daran glauben, dass die Solidarität am Ende den längeren Atem hat. Ich bewundere sie für ihr Durchhalten, auch wenn wir sie schon längst vergessen haben. Die dem Tod nicht das letzte Wort geben.

Damals in Jerusalem sagt Petrus in seiner mutigen Predigt: „Es war unmöglich, dass der Mann, den ihr gekreuzigt habt, vom Tod festgehalten wurde. Gott hat ihn auferweckt.“ Die Kraft der Auferweckung macht Menschen mutig und frei. Als   Petrus spricht, begreifen viele, was schiefgelaufen ist. Und sie spüren: So kann es nicht weitergehen. Sie wollen in der Wahrheit leben, sie lassen sich taufen und fangen neu an.

Ob das in Russland auch möglich ist? Oder in Belarus? Ein Anfang ist gemacht. Jetzt braucht es einen langen, sehr langen Atem.

Es gilt das gesprochene Wort.