Nach wie vor erleben viele Blinde: Sehende sehen sie nicht. Oder sehen nur ihre Behinderung, aber nicht den ganzen Menschen. Das war auch lange in Kirche und Theologie so. Seit einiger Zeit ändert sich daran etwas.
Sendetext nachlesen:
Am Sonntag heute sind wir mitten drin in der sogenannten "Woche des Sehens". Ich bin zunächst gestolpert über den Titel: Woche des Sehens. Denn es geht in dieser von Blindenverbänden verantworteten Aktionswoche um das Thema "Blindheit". Aber dann doch um das Sehen. Denn Ziel ist, dass die Situation blinder und sehbehinderter Menschen, hier bei uns und weltweit, in den Blick kommt – von Sehenden.
Nach Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation leben in Deutschland ca. 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen.
Eine von ihnen ist Martina Wolter aus Nienburg, 55 Jahre alt. Wie ihre fünf Jahre ältere Schwester Karin wurde sie geboren mit erblich bedingtem Grünen Star in beiden Augen. Sie hat eine Sehfähigkeit von nur 0,5 Prozent.
Martina lebt selbständig alleine, ist berufstätig und auch aus diesem Grund viel unterwegs – eine schlanke, sportlich gekleidete Frau, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, Rucksack auf dem Rücken.
Den weißen Blindenlangstock hält sie pendelnd in der rechten Hand.
"Mein Blindenlangstock ist keine mitleiderregende "Behinderten-Krücke", sondern – wie ich gerne sage – mein "Super-Wege-Ermöglicher". Mit ihm kann ich mich orientieren.
Wenn ich die Stockspitze auf dem Boden entlangrolle, kann ich zum Beispiel hören, ob Eingänge neben oder vor mir sind; und ich kann auch die Bodenbeschaffenheit erkennen. Manchmal leider Gottes auch einen Hundehaufen.
Andere Menschen sehen an dem Langstock: Ach, da läuft ein blinder Mensch!
Und können Rücksicht nehmen. Tun es aber oftmals nicht. Zum Beispiel an Bahnsteigen. Da sind ja für uns blinde Menschen die Leitstreifen montiert, an denen wir uns orientieren können. Andere Menschen stellen dort aber gerne ihre Koffer oder sich selber drauf ab. Das ist sehr ärgerlich."
Sehen und gesehen werden. Und: übersehen werden. Das erleben leider immer noch viele Blinde.
"Ich finde es ungeheuerlich, wenn andere Menschen, wenn ich dabei bin, über mich reden, obwohl es um mich geht. So, als würden sie mich gar nicht sehen. Schließlich bin ich blind, aber nicht doof."
Und es gibt übergriffige Distanzlosigkeit:
"Neulich am Bahnsteig, ich wollte in einen Zug einsteigen, hatte den Türgriff schon in der Hand: Plötzlich grapscht ein Mann meinen Arm, ohne zu fragen, ob ich überhaupt Hilfe brauche. Ich hab' mich sowas von erschrocken, dass ich einfach nur gesagt hab': Loslassen bitte!
Manchmal ist ein Arm aber auch hilfreich. Aber dann entscheide das ich, ob ich das brauche oder nicht. Wir sprechen dann kurz ab, wie es geht, und gehen dann gemeinsam. Kommunikation auf Augenhöhe ist hier sehr wichtig."
"Nichts über uns ohne uns!" oder auch: "Nicht über uns, sondern mit uns!"
Das sind Slogans aus der Behindertenrechtsbewegung für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Es gibt in diesem Sinn viele Fortschritte. Aber längst nicht überall. Das erlebe ich auch persönlich. Denn wegen meiner langjährigen MS-Erkrankung bin ich mit Rollstuhl unterwegs.
Die Kirchen haben zwar eine lange Tradition von Barmherzigkeit und Fürsorge im Verhältnis zu Menschen mit Behinderung. Aber der Weg von einem diakonischen "Dasein für andere" zu einem gleichberechtigten "Dasein mit anderen" ist noch nicht zu Ende.
Ein Beispiel ist der Gottesdienst. Es ist wichtig, dass es mehr inklusive Gottesdienste gibt, für alle Sinne. Aber noch wichtiger, dass auch Menschen mit Handicap Gottesdienst mitgestalten. Vor einiger Zeit hat Martinas Schwester Karin, die ja ebenfalls blind ist, an einer von mir geleiteten Gottesdienst-Schulung für ehrenamtlich Mitarbeitende teilgenommen.
Vor der Kamera haben die Teilnehmenden mit eigenen Texten Gottesdienst-Moderation geübt. Ich war überrascht und beeindruckt, wie souverän Karin das hingekriegt hat: alles auswendig gesprochen. Und wie klar sie den anderen aus der Gruppe Rückmeldung gegeben hat, wo deren Beiträge unsicher oder floskelhaft klangen.
Danach fühlte ich mich von mir selbst ertappt: Wieso hat mich das eigentlich so überrascht? Selbst behindert, bin auch ich nicht frei von Barrieren im Kopf ...
Ableismus. Den Begriff gibt es seit den 1980er Jahren. Die US-amerikanische Bewegung für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat ihn geprägt.
Abgeleitet von englisch "ability", Fähigkeit, bedeutet Ableismus: an einem Menschen nur das wahrnehmen, was ihn vom vermeintlichen Normal-Sein unterscheidet.
Also ihn oder sie auf die Beeinträchtigung reduzieren. Ableismus kann überheblich abwertend daherkommen: "Ach, die Blinde da wieder!" Oder auch übertrieben bewundernd: "Oh, dass die Blinde das kann!" Auch die Schuldfrage kann ins Spiel kommen: "Blind? Was soll dir das sagen?"
Gegen den vielfältigen Ableismus richtet sich die "Dis-/Ability-Theology", die "Theologie der Behinderung". Sie betont: Gottes Schöpfung ist bunt und vielfältig. Kein Mensch ist eine Schöpfungspanne. Jedem Menschen gilt uneingeschränkt Gottes Qualitätsurteil "Sehr gut". Wir alle sind anders: mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Wir alle sind auch gleich: begabt und begrenzt. Verletzlich und vollkommen. Handlungsfähig und hilfebedürftig.
Und: Jeder Mensch ist ganz – so wie er ist. Behindert-Sein ist nicht ein auszumerzendes Einzel-Merkmal einer Person, sondern Bestandteil ihrer Identität und Geschichte.
Es bedeutet einen eigenen Zugang zum Leben. Schränkt nicht nur ein im Vergleich zu sogenannten Gesunden, sondern erweitert produktiv den Erfahrungsraum – für sich selbst und in der Beziehung zu anderen.
Martina erlebt das:
"Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung zur Rechtspflegerin begonnen. Habe aber schnell gemerkt, dass ich auch gerne was mit dem Körper machen möchte. Dann habe ich umgeswitcht auf Physiotherapie. Und dort kam mir natürlich mein geschulter Tastsinn auch sehr zugute, da ich ja sowieso viel mit meinen Händen ertaste und erfahre.
Nach ein paar Jahren wollte ich aber nochmal was Anderes machen und habe eine Ausbildung zur Medizinisch-Taktilen Untersucherin begonnen.
Heute arbeite ich in Frauenarztpraxen und mache dort einen sehr intensiven Tastbefund der weiblichen Brust und schaue nach Auffälligkeiten. Eine sehr gute Methode als Ergänzung zu den technischen Untersuchungsmethoden. Das ist so richtig mein Ding! Und kommt bei den Frauen sehr gut an.
Und das Schöne daran ist, dass die Sehbehinderung hier mal kein Manko ist, sondern schlicht die Grundvoraussetzung, um diesen Beruf auszuüben."
Den Anstoß zu einer "Theologie der Behinderung" gab 1994 die amerikanische Religionssoziologin Nancy Eiesland mit ihrer Schrift "Der behinderte Gott".
Selbst körperlich behindert, entfaltet sie diesen Gedanken: Der auferstandene Christus zeigt sich seinen Freunden und Freundinnen gerade nicht als makellos strahlender Superheld, sondern mit seinen Wunden und Narben. Die bleiben. Mehr noch: Daran sollen sie ihn erkennen. Als gezeichneter, "behinderter Gott" ist Christus ihnen nahe.
Und so ist er heute Menschen nahe, die auch von Behinderung gezeichnet sind. Mehr noch: Gott selbst wird in ihnen sichtbar. Das bringt die soziale Ordnung durcheinander, so Eiesland.
In der Bibel bedeutet Behinderung meist Ausgrenzung. Ein Leben, das höchstens Mitleid erregt. Vertreterinnen der "Theologie der Behinderung" heute, oft selbst behindert oder chronisch krank, so die Neutestamentlerin Marie Hecke, entdecken in biblischen Texten auch überraschend andere Aspekte. Zum Beispiel:
Dem stotternden Mose, der das Volk Israel anführen soll, stellt Gott als Unterstützung seinen eloquenten Bruder Aaron zur Seite – sozusagen eine Behinderten-Assistenz.
Oder: In einer Vision des Propheten Hesekiel fährt Gott in einem feurigen Wagen mit vier großen Rädern aus funkelnden Edelsteinen durch den Himmel. Gott sozusagen im Rollstuhl unterwegs. Wie Gehbehinderte heute.
Oder: Der Apostel Paulus, gequält von einer Krankheit oder Behinderung, wird trotz seiner vielen Gebete nicht geheilt. Er muss damit leben. Aber das hindert ihn nicht, als Missionar durch die halbe Welt zu reisen und selbstbewusst und profiliert zu wirken.
Aus dem Blickwinkel der "Theologie der Behinderung" kann man die Heilungsgeschichten in der Bibel kritisch lesen. Zum Beispiel die von der Heilung des Blindgeborenen im Johannesevangelium. Hier schmiert Jesus einem Blinden am Wegesrand einfach so Spuckebrei in die Augen. Der Blinde wird sehend. Und das Ganze mündet in eine Diskussion mit Jesu Gegnern über seinen Machtanspruch als Messias. Aus Ableismus-kritischer Sicht ist das problematisch: Zuerst wird der Blinde ungefragt "emporgeheilt". Und danach wird seine Wunderheilung auch noch instrumentalisiert für theologische Grundsatzfragen.
Die "Theologie der Behinderung" hinterfragt die gängige Auffassung, nur das Leben ohne Behinderung sei das von Gott gewollte. Und die neue Welt Gottes sei eine Welt ohne Behinderte. Es braucht hier eine andere Sicht, auch andere Narrative.
Deshalb erzählt Marie Hecke die Geschichte vom Blindgeborenen provokativ anders: "Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der nicht-sehend geboren war. Er hielt an und fragte ihn: ‚Soll ich etwas für dich tun?‘ Der antwortete: ‚Meine Nachbarin hat viele Kinder, sie sind arm und leiden Hunger. Hilf ihnen! Ich kann dir den Weg zeigen.‘ Und Jesus folgte ihm nach."
Ob sie sich eigentlich wünscht, von ihrer Blindheit geheilt zu werden – zu dieser Frage hat Martina eine klare Meinung:
"Von meiner Blindheit geheilt zu werden, hat für mich keine Priorität. Das gehört für mich ja dazu, das Blindsein. Genau wie verschiedene andere Dinge auch. Wenn ich jetzt plötzlich alles voll sehen könnte – das würde mich sicherlich total überfordern.
Aber neulich hatte ich eine schöne Situation mit einer Patientin, die überfordert war mit der Frage, wie sie denn nun zum Bahnhof kommt. Und da habe ich ihr folgenden Vorschlag gemacht: Ich kenne den Weg zum Bahnhof, ich nehme Ihren Arm, wir gehen zusammen. Und das war schön für uns beide."
Dass in der Bibel einzelne Menschen körperlich geheilt werden als Zeichen für Gottes neue Welt – wunderbar. Dass es auch heute die Sehnsucht nach Heilung gibt – verständlich. Aber Heilung und Heil sind nicht gleichzusetzen.
Befreiung von Krankheit und Behinderung – das ist das eine. Befreiung mit Krankheit und Behinderung – das ist das andere. Herausfordernd, aber auch lockend:
Das eigene Leben positiv wahr-nehmen und selbstbewusst gestalten. Und Hoffnungsbilder malen von einer bunten Gemeinschaft der unterschiedlichen Kinder Gottes.
"Ich gehe gerne auf dem Wochenmarkt einkaufen. Und so stelle ich mir den Himmel manchmal vor wie einen großen Wochenmarktstand mit allerlei Gemüse, Obst, Kräutern. Und davor ganz viele Menschen: groß, klein, dick, dünn, hell, dunkel. Menschen, die zu Fuß gehen, Menschen im Rollstuhl. Leute mit Blindenlangstöcken, andere mit Gehstöcken. Es gibt kein Geschubse und kein Gedrängel. Keiner gafft blöd oder macht blöde Bemerkungen. Und alle kriegen die Hilfe, die sie wünschen.
Leichte Sprache, freundliche Worte. Das ist doch eine fröhliche Vorstellung und macht so richtig Appetit aufs Zusammenleben."
Es gilt das gesprochen Wort.
Musik der Sendung:
1. -3. David Plüss, Tag und Traum
Literatur der Sendung:
1. Nancy L. Eiesland, Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung. Echter Verlag, 2020
2. M. Hecke, J.W. Belser, Mose stottert, Gott fährt Rollstuhl. Crip Culture im Gespräch mit der Bibel, ZDS Nr.1, 2024