Vor 150 Jahren wurde Rainer Maria Rilke geboren. Im Werk des Dichters spielt der Glaube eine große Rolle. Katholisch aufgewachsen entwickelte er eine mystische Gottessicht, die viele Menschen bis heute tröstlich finden.
Ergänzender Quellen-Hinweis zum Bild:
Von Tubantia - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4779086
Sendetext nachlesen:
Rilke-Projekt / Mario Adorf:
"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge zieh‘n. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn."
Ach, Rilke. Dieser Dichter trifft mich ins Herz. Seit meiner Jugend. Heftig war ich von Weltschmerz und Liebesdingen geplagt. Da las ich sein Gedicht zum ersten Mal. Und ich stellte mir vor, welche Ringe mein Leben wohl wachsen lassen würde, wäre ich denn ein Baum. Breite Ringe, die von Glück und Wohlstand zeugen – oder dünne, die in Jahren der Entbehrung entstehen? Gleichmäßige Ringe, die darauf hindeuten: Mein Leben läuft rund – oder beängstigend ungleichmäßige? Im Buchladen um die Ecke fand ich Literaturkarten, vorne drauf ein Foto eines durchsägten Baumstammes, auf dem die Ringe zu erkennen waren – und in der Karte dieses Rilke-Gedicht: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…"
Damals, in Jugendjahren, habe ich mich auch stark mit Glaubensfragen beschäftigt. Was es so auf sich haben könnte mit Gott, überlegte ich immer wieder. Wie ich all das verstehen könnte, was ich in der Bibel las. Im Konfirmandenunterricht suchte ein sehr dialogbereiter Pastor mit mir nach Antworten. So richtig überzeugten die mich allerdings nicht. Dass das Leben ein ständiges Zugehen auf Gott sei, meinte er, und am Ende würde ich im Himmel, am Ziel ankommen und Gott schauen. Dann las ich die zweite Strophe des Rilke-Gedichts.
Rilke-Projekt / Mario Adorf:
"Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang."
Ja, so habe ich mich gefühlt: Ich kreiste um Gott. Dieser Dichter Rainer Maria Rilke: Mir schien fast, als würde der mich kennen. Als würde er Worte finden für das, was in meinem Kopf und Herzen so vorging. Da war einer, der legte den Glauben nicht fest, Gott auch nicht; der bot mir Bilder voller Fantasie an, die mich inspiriert haben. Irgendwie sah ich mich mit ihm um Gott kreisen. Den "uralten Turm" stellte ich mir wie im Fantasyfilm vor, alt, geheimnisvoll, warmes Licht strahlte er aus.
Das ist Jahrzehnte her. Ob ich einmal "ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang" sein werde, darüber habe ich noch immer keine Klarheit. Aber was es mit dem Glauben auf sich hat – darüber habe ich bei dem Poeten Rilke viel gelernt. Neben der Bibel, neben frommen Liedern sind mir die Gedichte Rilkes zu Glaubenserklärern geworden.
Rilkes Werk ist unfassbar groß, in ständig neuen Anläufen hat er versucht, seinen Glauben auszudrücken. Mal ist das Postkarten-gerecht, manchmal aber auch ziemlich schwierig zu verstehen. Denke ich darüber nach, was ich Rilke zu verdanken habe, dann kommen mir drei Erkenntnisse in den Sinn.
Meine erste Rilke-Erkenntnis: Gott ist überall.
"Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen,
und in dem Großen gibst du groß dich hin."
Gott ist überall? In jungen Jahren meinte ich, Gott sei nur in Kirchen zu finden, deswegen würden sie auch Gotteshäuser genannte. Langsam erfuhr ich: Kirchen sind Versammlungsräume für Menschen, die an Gott glauben und auf das Wirken des Geistes Gottes hoffen. Gott selbst aber lässt sich ja nicht beschränken. Der ist in "allen Dingen", in kleinen, scheinbar geringen, aber auch im Großen. Alles ist von Gott durchwirkt. Diese Vorstellung finde ich auch heute noch berückend. Wenn ich so durch den Alltag gehe, entdecke ich Gott an vielen Orten, auch in Menschen.
Unterhalte ich mich mit anderen darüber, stimmen mir die meisten zu. Auch die Pastorin Annette Behnken. Durch Zufall erfuhr ich, dass auch die "Wort zum Sonntag"-Sprecherin ein Rilke-Fan ist. Sie sagt über Rilke:
Annette Behnken
"Das ist, glaube ich, ganz bezeichnend für seine Spiritualität, dass er sagt, in den Dingen, dass, er sagt ja in einem Gedicht: "Ich finde dich in allen diesen Dingen." Und da gibt es dann noch die Verse: "Das ist das wundersame Spiel der Kräfte, dass sie so dienend durch die Dinge gehen." Und ich finde daran, ja, wird deutlich, wie er wirklich so im Hier und im Jetzt, in den Dingen, in der Natur seine Spiritualität findet. Das kann man pantheistisch oder panentheistisch nennen. Ich finde eigentlich, dass es eher mystisch ist, weil bei ihm alles scheint und weht und durchklingt durch alles. Und zugleich gibt es ja auch immer wieder die Stille, die bei ihm durch alles durchwirkt, die er so beschreibt, und das klingt schon sehr, ja, nach Mystik, auch nach den Mystikern des Mittelalters, Meister Eckhart hat zum Beispiel geschrieben: "Aber das Wehende höre die ununterbrochenen Nachricht, die aus Stille sich bildet." "
Meine zweite Rilke-Erkenntnis: Geht es um Gott, sollte ich meiner Fantasie freien Lauf lassen.
Ich habe mich mit dem Leben Rainer Maria Rilkes befasst. Seine Mutter war eine sehr fromme Katholikin. Ihr strenger Glaube schreckte Rilke ab. Fast scheint es, als streife er ihn mithilfe seiner Poesie ab. Spricht Rilke über Gott, klingt das ungewöhnlich. Er findet Bilder, die ganz neue Perspektiven öffnen.
"Du bist der raunende Verrußte,
auf allen Öfen schläfst du breit.
Das Wissen ist nur in der Zeit.
Du bist der dunkle Unbewusste
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Du bist der Bittende und Bange,
der aller Dinge Sinn beschwert.
Du bist die Silbe im Gesange,
die immer zitternder im Zwange
der starken Stimmen wiederkehrt.
Du hast dich anders nie gelehrt:
Denn du bist nicht der Schönumscharte,
um welchen sich der Reichtum reiht.
Du bist der Schlichte, welcher sparte.
Du bist der Bauer mit dem Barte
von Ewigkeit zu Ewigkeit."
Rilke fand ganz menschliche, aber doch mystische Vergleiche für Gott. Nicht rein und makellos wie in den Darstellungen etwa Michelangelos schwebt er im Himmel – nein, Gott ist ein schwitzender Bauer, ein Arbeiter mit verrußtem Gesicht. Aber Rilke findet auch abstrakte Namen für Gott. Annette Behnken:
Annette Behnken
"Mich spricht zum Beispiel unheimlich an, dass Rilke, wenn er über Gott oder Religion spricht, ganz oft Begriffe benutzt wie "Namenlosigkeit" oder "Vorraum der Erkenntnis" oder "Nichtwissen". Und das verstehe ich so als einen ganz tiefen Respekt vor dem Heiligen oder Göttlichen, das wir eben nie wirklich fassen oder greifen und verstehen können, sondern dem wir uns nur annähern können. Das spricht mich unheimlich an. Und was ich eben unglaublich faszinierend finde auch einfach für uns Theolog*innen, wie er sich mit Worten an der Grenze des Sagbaren bewegt. Also wie er eigentlich es schafft, mit Worten etwas auszudrücken, was man mit Worten eigentlich gar nicht sagen kann. Und eben auch Gott oder das Göttliche nicht mit bestimmten Eigenschaften kennzeichnen will, sondern dass er in so einer Art Vorraum des Glaubens bleiben will, so verstehe ich ihn, so verstehe ich seine Texte. Ja, sich an der Grenze des Aussagbaren bewegt und eben die Erfahrungsebene über das Sagbare hinausgeht und die Ebene ist, um die es geht. Ich erfahre etwas und das spricht mich dann in einer, ja, spirituellen Tiefe an. "
Meine dritte Rilke-Erkenntnis: Am Ende meines Lebens bin ich nicht allein. Da wartet Gott.
Um unsere Lebensreifung zu beschreiben, nutzte Rainer Maria Rilke oft Bilder aus der Natur. Die Jahresringe eines Baumes. Und die Blätter.
Cee Fawn, Herbst
"Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält."
Die Düsseldorfer Indie-Musikerin Cee Fawn hat dieses Rilke-Gedicht vertont. Das Gedicht heißt ganz einfach "Herbst". Eigentlich ist Cee Fawn in ganz anderen musikalischen Gefilden unterwegs, macht Elektronik-Musik. Im Gespräch erzählte sie mir: Ihre Mutter hat ihr in Kinderzeiten Gedichte vorgelesen – auch von Rilke. Es war ihr ein inneres Bedürfnis, sie zu vertonen:
Cee Fawn:
"Die Herbstgedichte waren mir eben auch wichtig, weil sie die Welt, die Umwelt, in der wir leben, als einen zu bewundernden Ort beschreiben. Gleichzeitig findet man in den Gedichten auch so unglaublich viel Mitgefühl für das Menschsein an sich, weil Rilke darin ja auch ganz klar die Endlichkeit beschreibt, also dass es einfach erbarmungslos dem Ende zugeht vom ersten Tag an. Und er macht in diesen Gedichten so deutlich, dass es eben auch schwer ist, Mensch zu sein, und das gilt für alle Menschen. Man muss Abschied nehmen von Menschen, die man liebt. Man muss es akzeptieren, dass es für bestimmte Dinge ab irgendeinem Zeitpunkt einfach zu spät ist. Und das ist hart. Und Rilke beschreibt das in seinem Gedicht Herbsttag ja zum Beispiel so innig, dass man sich einfach verstanden fühlt. Und wenn man sich verstanden fühlt, dann kommt einem natürlich auch der Gedanke, dass man mit all dem gar nicht alleine ist."
Manchmal gehe ich Menschen auf die Nerven, wenn ich Rilke-Gedichte in Gespräche einstreue. "Rilkest du noch oder lebst du schon?", sagte neulich jemand und brachte mich damit zum Schmunzeln. Denn da ist ja was dran: Zu viel Rilke lesen kann die Wirklichkeit der Welt mit einer zuckersüßen, aber eben doch schweren Melancholie bedecken. Die Rilke-Gedichte liefern keine Antworten auf die wesentlichen Fragen, die alle Menschen in der einen oder anderen Weise beschäftigen: Wozu lebe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Und wie hängt der mit Gott zusammen? Und wer ist das überhaupt: "Gott"? Gibt’s den wirklich? Rilke umkreist all das in seinen Gedichten, ohne dass er sich festlegen ließe. Auf diese Fragen allgemeingültige Antworten zu finden, habe ich aufgegeben. Weil ich ahne, Rilke hat Recht: Die Fragen könnten wichtiger sein als die Antworten. Er schreibt in einem seiner "Briefe an einen jungen Dichter":
"Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben … Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten … Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein."
Für mich sind diese Zeilen von Rilke wie ein Advents-Text. Denn darum geht es im Advent: Geduld haben gegen alles Ungelöste in meinem Herzen. Die Fragen leben. Warten und vertrauen: Die Antwort wird kommen.
Es gilt das gesprochene Wort.