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„Damit endlich zusammenwächst, was zusammengehört!“
Es ist selten, dass Sätze von Politikern die Herzen der Menschen erreichen. 1989 fiel so einer. Er stammt von Willy Brandt, dem lebenserfahrenen ehemaligen Bundeskanzler. Im November war das, kurz nach dem Mauerfall. Deutschland war wie im Taumel. Unfassbar: Der Eiserne Vorhang, die Grenze zwischen den Machtblöcken der Welt, war plötzlich verschwunden. Die Mauer stand zwar noch, die Grenzbefestigungen auch - aber sie hatten ihre Undurchlässigkeit verloren und damit ihre Macht. In Berlin tanzten die Menschen nun auf einmal auf dieser verhassten Mauer. Ungläubig, stolz und voller Freude strömten sie aus der DDR in den Westen. Am 9. November 1989 wurde Weltgeschichte geschrieben. Eine Revolution hatte friedlich geendet.
Und plötzlich war er in aller Munde, dieser Satz Willy Brandts, den ihm ein Journalist entlockt hatte:
Damit endlich zusammenwächst, was zusammengehört!
Binnen kurzer Zeit wurde Willy Brandts Bemerkung zu einem geflügelten Wort. Warum eigentlich? Worin besteht eigentlich der Zauber dieser fünf Wörter?
Zu jemandem zu gehören ist eine der großen Ur-Sehnsüchte des Menschen.
Die Bibel greift sie im Mythos der Schöpfung auf.
„Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“ (1 Mose 1,27), heißt es dort. Und wenig später:
„denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ (1 Mose 2,18)
Dieser Satz hat seine Wahrheit durch die Jahrtausende nicht verloren. Ja, heute wird er gerne auch bei Hochzeiten als Trauspruch gewählt. Aber er ist mehr als ein Spruch für die traute Zweisamkeit. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ – diese Aussage beschreibt eine Bestimmung des Menschen: Der Mensch ist nicht auf Einsiedelei und Isolation angelegt, sondern auf Gemeinschaft. Wie auch immer sie sich gestaltet. Zu zweit. Als Familie. Als Sippe. Als Gruppe Gleichgesinnter. Als Nation. Als Weltgemeinschaft.
Zu jemandem zu gehören, verschafft Wohlgefühle und Sicherheit.
Mit jemandem – oder mit mehreren – zusammengehören: Das ist kein vom Himmel gefallener Zustand. Es ist auch eine Herausforderung. Denn wie das geht und wie das zu gestalten ist – zusammenzugehören – das muss sich jeder Mensch in seinem Lebenslauf erarbeiten.
Am Anfang steht die Symbiose zwischen Mutter und Kind, an Innigkeit kaum zu überbieten. Die enge Verbindung sichert das Überleben. Und mit jedem Stillen, mit jedem Blick in die Augen der Mutter wächst das Urvertrauen. Wir gehören zusammen. Komme, was wolle. Mit fortschreitendem Alter entwickelt sich aber immer mehr Eigenständigkeit. In der Pubertät stellen junge Menschen die gewohnte Zusammengehörigkeit oft sehr massiv in Frage. Manche suchen auf melancholische Weise die Einsamkeit, wollen auf eigenen Füßen stehen und unabhängig von anderen sein. Andere entdecken die Macht des Verliebtseins. Junge Menschen suchen auf spielerische Weise einen Mann, eine Frau, sie sehnen sich nach einer neuen Zusammengehörigkeit. Einige Jahre später folgen oft Eheschließung und Familiengründung. Große Gefühle: Kinder kommen zur Welt, und dann womöglich Enkelkinder. Auf Familienfeiern versichert man sich gegenseitig der Zusammengehörigkeit. Bestenfalls hält sie bis zum Tod. Dass sich die Familie noch mal am Sterbebett versammelt – diese Vorstellung rührt viele Menschen. Denn sie zeigt: Der Zusammenhalt war so groß, dass selbst der Tod ihn nicht zerstören kann und dass er alle zeitweilige Störungen überstanden hat. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.
Wie Klippen ragen solche Störungen in den Lebenslauf hinein. Abschiede. Scheidungen. Zwist. Streit. Gewaltsame Trennungen. Es scheint so, als würde das Zusammengehören von vielen Seiten schwer gemacht.
Zum Beispiel im Privaten. Die Scheidungs-Statistiken sprechen für sich. Leicht ist es nicht, auf lange Zeit mit dem Partner oder der Partnerin zusammenzubleiben. Und das, obwohl es sich alle Liebenden so sehnlich wünschen. Auch im Zusammenhalt von Eltern und Kindern gibt es oft Brüche: Wenn Enttäuschungen oberhand über geglückte Zeiten gewinnen. Wenn es am Verständnis zwischen den Generationen mangelt. Wenn die Fremdheit des Anderen größer erscheint als das Gemeinsame.
Auch politische Verhältnisse zerstören mitunter den Zusammenhalt. Die deutsch-deutsche Teilung zerschnitt ein ganzes Volk. Als die DDR im Jahr 1961 die Grenze zum Westen schloss, trennte sie auf brutale Weise Lebensgemeinschaften verschiedener Art: Familien, Vereine, Kirchengemeinden, Regionen, Dörfer, sogar eine ganze Stadt. Wie ein Schnitt mit dem Seziermesser wurde das, was zusammengehörte, getrennt. Das schmerzte tief und hinterließ Wunden.
Reisen und Kontakte können mit so rigiden Maßnahmen verhindert werden – womit die Machthaber im Osten jedoch nicht gerechnet hatten: Die Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit lässt sich nicht so einfach unterdrücken. Im Gegenteil: Die Teilung Deutschlands setzte große Leidenschaft für die Überwindung der Grenzen frei. Mit viel Fantasie und subversiver Kraft versuchten Kirchengemeinden, die Teilung zu unterwandern – etwa mit Kirchenpartnerschaften zwischen Ost und West. Die Christen wollten sich nicht zufriedengeben mit der gewaltsamen Trennung.
Kirchenpartnerschaften? Sie wurden schon 1949 ins Leben gerufen, als absehbar war, dass die Menschen im Osten Deutschlands einen anderen Weg gehen würden als im Westen. Die evangelischen Landeskirchen im Westen wurden mit den östlichen verbandelt. Und ziemlich schnell bauten Kirchengemeinden Kontakte auf. Adresslisten kursierten. Konfirmanden und Konfirmandinnen im Osten begannen Brieffreundschaften mit Jugendlichen im Westen. Freundschaften entstanden. Frauenkreise schickten Pakete mit Lebensmitteln und Kleidung an die Kirchengemeinden der DDR, denn dort mangelte es rasch an vielem. Der Bau der Mauer und die Schließung der Grenze erschwerten die Kontakte wesentlich. Die Christinnen und Christen aus den westdeutschen Kirchengemeinden überwanden sie auf ihre Art und mit bemerkenswerter Energie. In ihren Privatautos schmuggelten sie auch verbotene Waren in den Osten. Sie ließen sich nicht einschüchtern von den Schikanen der DDR-Grenzer. Im Westen spülte das Kirchensteuersystem viel Geld in die Kassen der Gemeinden. Freigebig schickten sie ihren Glaubensgeschwistern im Osten auch große Summen oder Dinge, die dort dringend gebraucht wurden. Ziegel für Kirchendächer, Orgelzubehör, Waschmaschinen, Material für die kirchlichen Pflegedienste. Was für eine ermutigende Erfahrung: Christliche Nächstenliebe lässt sich von einer Grenze erschweren – aber nicht verhindern.
„Wir sind das Volk“, skandierten 1989 Hunderttausende Männer und Frauen in Leipzig und anderen Großstädten der DDR. Oft trafen sie sich vor den Demonstrationen in Kirchen, zündeten Kerzen an, und wurden darin bestärkt: Gewalt lässt sich am wirkungsvollsten mit beharrlicher Gewaltlosigkeit bekämpfen. Grenzen lassen sich am besten mit Protest und Klugheit niederreißen. Eine Revolution dient dem Guten nur nachhaltig, wenn sie friedlich vonstattengeht.
Der Slogan „Wir sind das Volk“ gab Kraft dafür. Er ist einerseits eine selbstbewusste Bekundung: Wenn alle Macht in diesem Staate dem Volk gehört – dann soll er auch tun, was das Volk möchte: Freiheit ermöglichen. Freiheit, endlich wieder mit den eigenen Landsleuten im Westen zusammen sein zu dürfen. Im Slogan „Wir sind das Volk“ schwingt aber auch mit: „Wir sind ein Volk“. Er weist auf die Energiequelle hin, die den Protestierenden in der DDR-Kraft schenkte: Die Sehnsucht danach, die Zusammengehörigkeit wieder zu leben, sich gegenseitig zu besuchen, wie selbstverständlich.
Die Sehnsucht nach dem, von dem man getrennt ist: Dieses Motiv durchzieht die gesamte Bibel. Der Mensch, geschaffen als Mann und Frau, hat seine Freiheit genutzt. Auf der Suche nach Erkenntnis sind Adam und Eva aus dem paradiesischen Zustand der selbstverständlichen, unerschütterlichen Zugehörigkeit zu Gott gefallen. Der Schöpfungsbericht beschreibt die Wucht dieses Ereignisses – wieder in einer mythischen Erzählung: „Die Vertreibung aus dem Paradies“. Was für ein Bild: Die Rückkehr in den Garten Gottes wird verwehrt durch bewaffnete Cherubim, die vor unüberwindbaren Paradiesmauern stehen (1 Mose 3,24). Die Einheit mit Gott ist gestört.
Die ganze Bibel lässt sich lesen als Sehnsuchtsbuch. Sehnsucht danach, die innige Zusammengehörigkeit zu Gott möge doch wiederhergestellt werden. Wie in anderen Religionen auch sollen Opfer nach der Vertreibung aus dem Paradies die Kluft zwischen Gott und Mensch schließen. Schnell beginnt ein neidischer Wettkampf: Wessen Opfer nimmt Gott wohl lieber an? Wem ist Gott wohl näher? Diese Frage ist einigen so wichtig, dass sie dafür sogar morden. Schmerzlich spüren die Menschen Gottes Ferne – immer dann, wenn sie sich seinem Einfluss und seinem Willen entziehen. Was für ein Abstieg: Statt im Paradies zu leben, finden sich letzte Überlebende während einer alles vernichtenden Sintflut auf dem Meer wieder. Am Ende jedoch fühlen sie sich bestärkt: Gott versichert ihnen durch einen Regenbogen, nahe und wieder wohlgesonnen zu sein (1 Mose 7-8).
In den biblischen Vätergeschichten findet sich auch eine, in der Menschen ihre Zusammengehörigkeit selbst aufkündigen, und zwar aus niederen Motiven: Joseph wird von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft, weil er der Lieblingssohn des Vaters ist. Wieder ist Neid die treibende Kraft, die Gemeinschaft zu zerstören (1 Mose 37).
Durch die zerstörte Eintracht zwischen den Menschen und Gott ist ein direkter Kontakt oft gar nicht mehr möglich. Will Gott zu den Menschen sprechen, bedient er sich einiger Auserwählter, der Prophetinnen und Propheten. Und nur ein ganz besonders Auserwählter darf zu ihm kommen: Mose, der Prophet, steigt auf den Berg Gottes und empfängt die Zehn Gebote (2 Mose 19-20). Sie sollen dafür sorgen, dass sich die Menschen wenigsten untereinander die Gemeinschaft bewahren. Gott bleibt bei alledem souverän und lässt die Menschen im Ungewissen:
„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (Jeremia 23,23), fragt er durch den Propheten Jeremia.
Und doch: Die Sehnsucht nach Gott ist übergroß. Gebete formulieren sie inbrünstig.
Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?
Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! (Psalm 13),
heißt es einem Psalmengebet. Das klingt schon fast wie ein Protest: Gott möge doch endlich wieder in eine Einheit mit den Menschen treten! Kirchenvater Augustinus fasste diesen Wunsch in ein Wort, das bis heute Menschen berührt:
Ruhelos ist unser Herz, bis dass es ruhe in dir, Gott…
… damit endlich zusammenwächst was zusammengehört.
Als Willy Brandt diesen Satz sagte, im November 1989, da war die Zusammengehörigkeit wieder hergestellt. Die Menschen diesseits und jenseits der Mauer konnten sich wieder besuchen. Sie konnten unbeobachtet von staatlichen Schnüfflern miteinander umgehen. Sie konnten sich
treffen, sie konnten miteinander feiern und sich über die Zeit der Trennung austauschen. Was war alles passiert während dieser Zeit? Wie habt ihr da drüben gelebt? Was habt ihr durchgemacht, was habt ihr erlebt? Worüber habt ihr euch gefreut, was habt ihr erlitten? Und wie seid ihr mit der Tatsache umgegangen, dass wir gewaltsam getrennt wurden?
Zum Gefühl des Zusammengehörens trat eine merkwürdige Fremdheit. 28 Jahre Trennung: Da lässt es sich nicht so einfach weitermachen wie vorher. Da ist viel geschehen. Die Sehnsucht ist erfüllt, ja. Aber wie soll man mit der entstandenen Fremdheit nun umgehen?
Mag sein, dass diese Fremdheit unter den Christen, die Kirchenpartnerschaften pflegten, nicht ganz so groß war. Sie wussten: Die Erfahrungen der Teilung hatten auch Auswirkungen auf die Kirchen gehabt. Christen hatten in der DDR einiges zu erleiden – nur weil sie ihren Glauben lebten. Wer Christ war, hatte Probleme – in der Schule, bei der Berufssuche, bei der Arbeit. Im Westen hingegen wurden lange eher jene schräg angesehen, die der Kirche den Rücken zugekehrt hatten. Dass Glaube Nachteile bringen könnte, war den Christen im Westen fremd.
Nach dem Mauerfall überschlugen sich die politischen Ereignisse. Die Weltmächte setzten sich an einen Tisch. Was lange Zeit niemand zu hoffen gewagt hatte, wurde Wirklichkeit: Deutschlands Einheit wurde besiegelt. Am 3. Oktober 1990, per Einheitsvertrag.
Vielen war nun schon klar: Die Wiedervereinigung hat dafür gesorgt, dass die Deutschen in Ost und West wieder zusammengehören. Aber vieles lag im Argen. Die Lebensumstände bleiben sehr unterschiedlich. Diese Herausforderung wird noch Jahre, sogar Jahrzehnte währen.
Willy Brandt fasste es in die richtigen Worte: Ja, was zusammengehört, muss erst wieder zusammenwachsen. Das Bild erinnert an eine Wundheilung. Über einer Wunde wächst die Haut wieder zusammen. Selbstheilungskräfte treten in Aktion. Nach einer Weile ist nicht nur der Schmerz überwunden, es ist nahezu nichts mehr zu sehen von dem Erlittenen. In der Erinnerung, ja, da kommen die Schmerzen noch hin und wieder hoch. Aber die Stelle, an der eine Wunde klaffte, ist verheilt – manchmal vollständig, manchmal, wenn die Wunde sehr tief war, ist eine Narbe zu erkennen.
Und wie geht das zwischen Menschen: „Zusammenwachsen“? Vermutlich gibt es auch da so etwas wie Selbstheilungskräfte. Eine könnte die noch ungestillte Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit sein. Die Grenze ist gefallen, ja - aber das Verstehen muss noch nachkommen. Da ist noch etwas offen, was nicht ruhig werdne lässt. Die Wunde der Teilung ist noch nicht geschlossen. Sie heilt in dem Maße, in dem die Menschen in Ost und West sich gegenseitig zuhören, sich befragen, einander erzählen. Es dauert, bis Menschen sich öffnen. Von dieser Erfahrung berichten auch die Christinnen und Christen, die schon lange Kirchenpartnerschaften leben. Erst jetzt, nach Jahrzehnten, schildern sie sich gegenseitig, was ihnen widerfahren ist und wie sie sich damals wirklich fühlten. Wo solche Gespräche stattfinden, da wächst zusammen, was zusammengehört. Da ist Heilung möglich. Das wird die Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit gestillt.
Und wer stillt die Sehnsucht der Christinnen und Christen, wieder mit Gott vereint zu sein? An mehreren Stellen schildert die Bibel in wunderschönen Bildern, wie das einst sein wird. Nein, eine Rückkehr ins Paradies wird es nicht geben, das bleibt verschlossen. Am Ende aber – die Bibel nennt es das „himmlische Jerusalem“ – am Ende wird Gott bei den Menschen wohnen. So sieht es der Seher Johannes vorher:
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. (Offenbarung 21,3f.)
Das Bild ist eine gute Ergänzung zu dem Spruch Willy Brandts, der so viele Menschen gerührt hat:
Damit endlich zusammenwächst, was zusammengehört.
Vielleicht birgt der Spruch diese Lebensweisheit: Trennung ist schmerzlich – aber wer sie durchlebt und durchlitten hat, der wird tiefere Gemeinschaft erfahren als zuvor.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Interlude, Werner Hucks, CD-Titel: Dreamtime
- Blueberry Island, Werner Hucks, CD-Titel: Dreamtime
- One Mure Blues (reprise), Werner Hucks, CD-Titel: Dreamtime
- Kaiphas Palace, CD-Titel: 50+ (Wortimbild.de)
- Großer Gott wir loben dich, Ignaz Franz (traditional), 50+ (Wortimbild.de)