Bild: Stiftung Islam in Deutschland
Frei und gleich
Das ‚Manifest des freien Urchristenthums‘
13.01.2019 07:35
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März 1848. Bürgerliche Revolution in Deutschland. Endlich Religions-, Versammlungs-, und Pressefreiheit, ein neues Wahlrecht! Julius Köbner, einer der Väter des deutschen Baptismus, ist fasziniert. Er greift zur Feder und veröffentlicht sein 22 Seiten umfassendes „Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk“. Wortgewaltig streitet er für einen ursprünglichen Glauben, den jeder Christenmensch individuell freiheitlich leben darf:

 

„Das wunderbare Erdbeben, welches dem festen Schlosse der Fürstenmacht den Einsturz drohte, ergriff auch das Gebäude der Priestermacht, mit jenem zu einem Bau künstlich vereinigt. Seit 15 Jahrhunderten standen beide Mächte zusammen und hielten sich gegenseitig an einander fest, allen Stürmen trotzend; selbst die Reformation trennte sie nicht. Sondern sie verband sie nur noch inniger aneinander. Da ertönt 1848 allenthalben der Ruf: Religionsfreiheit! Trennung der Kirche vom Staate!“

 

Julius Köbner wurde 1806 in Odense in eine jüdische Familie hineingeboren. Als 20-Jähriger entdeckte er den christlichen Glauben. Und nach zehn Jahren in der lutherischen Kirche wandte er sich der neu entstehenden baptistischen Bewegung zu. Denn hier sah er Freiheit konsequent verwirklicht: die Trennung von Staat und Kirche. Eine Gemeinde aus mündigen Gläubigen. Demokratische Gestaltung des Gemeindelebens.

 

Viele der sog. „Nonkonformisten“, die sich in dieser Frühzeit den Baptisten anschlossen, sich in kleinen Zirkeln dem Bibelstudium widmeten und ihre Erkenntnisse weitertrugen, erlebten Diskriminierung und Verfolgung durch staatliche und amtskirchliche Behörden, sogar Inhaftierung und Zwangstaufen ihrer Kinder. Auch Köbner. Davon ist seine Streitschrift geprägt. Sie wurde übrigens schon kurz nach ihrem Erscheinen verboten.

War wohl zu frei und zu frech für die Herrschenden, auch für die herrschende Kirche.

 

Köbners heftige, auch polemische Abgrenzung von den Amtskirchen ist heute längst überholt. Aber dieses ursprüngliche Demokratie-Gen sitzt tief in der Überzeugung von Baptisten und Freikirchen insgesamt. Julius Köbner stand engagiert dafür ein. Und es ist nach wie vor zeitgemäß: z.B. das Modell der freiwilligen, unabhängigen Finanzierung – ein Alleinstellungsmerkmal, das viele Leute interessant und nachahmenswert finden.

Oder eine Beteiligungskultur, die in der persönlichen Glaubensüberzeugung gründet und alle Ebenen der kirchlichen Arbeit prägt. Dies ist manchmal anstrengend, aber attraktiv und dynamisch: mitdenken, mitentscheiden, mitmachen. Frei und gleich.

 

In Köbners Manifest klingt das so:

 

„Die Gemeinde Christi ist kein Publikum, welches Geschmack daran findet, denselben Schauspieler 52 mal im Jahr auftreten zu lassen, um in demselben mittelalterlichen Costume die Rolle eines ersten Liebhabers der Moral zu spielen. Sie will eines redlichen, vom Geiste Gottes durchdrungenen Mannes tiefste Herzenserfahrungen, seinen selbst erprobten ernstlichen Rath vernehmen. In ihren beratenden Versammlungen aber will sie nicht stumme Zuhörerin eines privilegierten Redners sein, sondern Jeden seine Ansicht frei äußern lassen und dann ihr Votum geben. Jedes Glied hat selber Herz und Seele, Willen und Erkenntniß; daher lebt und handelt sie, auch ohne priesterliches Faktotum.“

 

Julius Köbner prangert „jede eitle Prachtentfaltung“ von Kirche an:

 

Die Gemeinde verachtet Wortprunk und aufgenähte Gelehrsamkeitsflitter; goldene Kanzelquäste und prächtige Altardecken sind in ihren Augen nur veraltende Fetzen, eine Beute des Staubes und der Motten; betäubendes Orgelgeräusch und pompöse Steinhallen befriedigen ihren Geist nicht. Sie will wahres, bleibendes Herzensglück! Sie schätzt den gesunden, kräftig wirkenden Gedanken, der im groben Kittel einer unbeholfenen Sprache auftritt, höher als die leere Phrase in Sammt und Seide.“

 

Da mag Bruder Köbner Recht haben! Wobei: Ein kräftiger Gedanke in schöner Sprache hat ja auch was! Gibt's zum Glück auch in Freikirchen. Genauso wie klassisches „Orgelgeräusch“. Aber weit verbreitet sind populäre (Band-)Musik und moderne, un-liturgische Gottesdienstformen, was vielen kirchenfernen Menschen nahe kommt.

 

Und statt „pompöser Steinhallen“ gibt’s Gemeindezentren, die oft eher einer Mehrzweckhalle ähneln als einer Kirche. Denn Gemeindeleben findet längst nicht nur am Sonntag im Gottesdienst statt. „Wahres, bleibendes Herzensglück“, d.h. ein Glaube, der das Leben prägt und in Krisen trägt, wird im Alltag gelebt. Wie in einer großen Familie. Man kennt sich, ist sich nahe. Das ist in unserer vereinzelten Gesellschaft für viele Menschen ein wertvolles Geschenk. Problematisch wird es, wenn aus wohltuend achtsamer Nähe einengend beobachtende Kontrolle wird. Hier gilt es, selbstkritisch hinzuschauen und eine wirklich offene Willkommenskultur zu leben – für alle!! Frei und gleich.

 

Ein schönes Beispiel dafür ist die Baptistenkirche in Berlin-Wedding. Ein schlichter, aber gemütlicher Gemeindesaal, diverse Musikinstrumente, Spielteppich und Bobbycars. Gottesdienst mit jungen Familien und Senioren, mit Menschen verschiedenster Herkunft, Hautfarbe und sozialem Status. Mit aktueller Predigt und persönlichen Erfahrungen.

In der Mitte des Gottesdienstes eine Begegnungsrunde mit Kaffee und Klönen. In der Woche ein Stadteilcafé für arabische Frauen aus dem Kiez, Nachhilfepatenschaften, ein Winterspielplatz, Musikunterricht für Kinder.

 

Pastor Peter Jörgensen beschreibt seine Gemeinde so:

„Uns ist es wichtig, alle willkommen zu heißen, also nicht exklusiv zu sein. Und insofern ist es ein großes Kompliment für uns, wenn Menschen zu uns kommen, die es sonst im Leben schwer haben.“

 

 

An jedem Freitagabend sieht‘s nochmal wieder anders aus im Gemeindezentrum der Baptisten. Da sind die Stühle weggeräumt im Kirchsaal. Teppiche liegen auf dem Boden und ca. 100 Männer und auch einige Frauen knien darauf. Zum Gebet angeleitet von einem vierzigjährigen Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose, mit kurzem Bart und freundlichen Augen. Freitagsgebet der „Stiftung Islam in Deutschland“.

Ihr Gründer und Leiter ist Imam Abdel Adhim Kamouss. Er war deutschlandweit bekannt geworden als islamistischer Prediger der Al-Nur-Moschee in Berlin und als Youtuber mit radikalen Hass-Botschaften.

 

Aber Kamouss ist nicht mehr der, der er war. Er hat sich gewandelt. Vom Salafisten zum Friedensprediger. Vom Saulus zum Paulus sozusagen. Eine persönliche Krise, viele Gespräche, viel Lesen und Nachdenken haben seine radikalen Schwarz-weiß-Gewissheiten bröckeln lassen. Sein Credo heute: Freiheit im islamischen Glauben und Religionsfreiheit für alle. Der Dialog mit Christen und Atheisten. Dafür hat er seine Stiftung gegründet. Gerade auch muslimische Jugendliche will der frühere Hassprediger vor der Radikalisierung bewahren. Will dazu beitragen, dass Muslime sich in die deutsche Gesellschaft integrieren. Die Stiftung bietet Töpferkurse an, Familienberatung, einen Theaterworkshop, eine Pfadfindergruppe. Für alle. Von den eigenen Leuten wird Kamouss für seine Arbeit kritisiert, ausgegrenzt, bedroht. Seine Stiftung hat keinen Ort. Deshalb ist sie Gast bei den Baptisten.

 

Nach dem Freitagsgebet werden die Teppiche eingerollt, die Stühle wieder hingestellt, der Abendmahlstisch geschmückt. Denn am Sonntag ist natürlich wieder Gottesdienst.

Ein spannendes Experiment von Gastfreundschaft! Nicht unumstritten in frommen Kreisen. Aber, wie ich finde, ur-baptistisch. Ur-christlich. Jedenfalls wenn man Köbners „Manifest vom freien Urchristenthum“ liest und seine Forderung nach Religionsfreiheit:

 

Wir behaupten sie für jeden Menschen, der den Boden des Vaterlandes bewohnt, wir fordern sie in gleichem Maße für Alle, seien sie Christen, Juden, Muhamedaner oder sonst was.

 

Ein wirklich steiler Satz! Aktueller geht es gar nicht, heute, in diesen Zeiten von Hate-Speech und Fake-News, von Abgrenzung und Intoleranz, gerade auch dem Islam in Deutschland gegenüber.

 

Pastor Peter Jörgensen:

Vermutlich kennen die wenigsten in unserer Gemeinde das Manifest von Köbner. Aber über die Sache haben wir intensiv miteinander gesprochen, richtig diskutiert. Und wir erleben jetzt, wie dankbar und fröhlich unsere muslimischen Freundinnen und Freunde sind, bei uns einen geschützten Raum, ein vorübergehendes Zuhause, gefunden zu haben. Und wir fühlen nach, wie es umgekehrt für uns wäre, in einem anderen Umfeld diese Gastfreundschaft zu erleben. Ihr Glück macht auch uns glücklich…“

 

Ich finde, ein gutes Beispiel für konkrete Religionsfreiheit. Es passt zum 70. Jubiläum der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, in denen die Freiheit von Glauben und Gewissen zentral ist. Gerade diese Freiheit ist zunehmend nicht mehr selbstverständlich.

In diktatorischen Ländern. Aber auch hier bei uns.

Deshalb ist es gut, dass die Evangelische Kirche in Deutschland die Internetinitiative „#freiundgleich“ gestartet hat, hier werden Hoffnungsgeschichten zu den Menschenrechten gesammelt.

 

Neben seiner Gemeindearbeit ist Pastor Jörgensen auch Beauftragter der Freikirchen am Sitz der Bundesregierung. In seiner politischen Arbeit setzt er sich dafür ein, dass das Thema „freiundgleich“ präsent ist:

 

Pastor Peter Jörgensen:

Freiheit ist ein kostbares Gut. Die Sehnsucht danach tragen wir alle in uns. Um persönlich wählen zu können, wo ich Klärung meiner Gewissensfragen nach Sinn und Grund des Lebens finde, ist Freiheit unverzichtbar. Deshalb begrüße ich auch sehr, dass die Bundesregierung einen Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit ernannt hat.

Es gibt hier viel zu tun, was die Umsetzung dieses Freiheitsrechtes angeht. Dies zeigt sich ja gerade darin, wie es Minderheiten ergeht. Da haben wir international, aber auch bei uns in Deutschland, noch viele Lernerfahrungen vor uns.“

 

Genau das war auch schon die Forderung von Julius Köbner. Er steht damit in der Tradition der ersten Baptisten, die bereits im 17.Jahrhundert die Religionsfreiheit eingeführt hatten – in der amerikanischen Kolonie Rhode Island.

 

Und es war das Lebensthema des berühmtesten Baptisten: Martin Luther King. Vermutlich kannte auch er das Manifest seines „Vor-Kämpfers“ Köbner. Hat sich auch an dessen kerniger Sprache erfreut. Aber die beiden verbindet mehr als ihre eindringliche Sprach- und Redekunst.

Es geht ihnen um ein gerechtes Zusammenleben, bei dem nicht die Unterschiede zählen, nicht Hautfarbe und Herkunft, Geschlecht und Glaube, Alter und Aussehen, Begabung und Behinderung, sondern einzig dies: Die gemeinsame Würde als Gottes geliebte Menschenkinder, denen er seine Welt als Lebensraum anvertraut hat.

 

Martin Luther King hat es einmal so gesagt:

 

Das ist das große, neue Problem der Menschheit. Wir haben ein großes Haus geerbt, in dem wir zusammen leben müssen – Schwarze und Weiße, Morgenländer und Abendländer, Juden und Nichtjuden, Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus – eine Familie, die irgendwie lernen muss, in Frieden miteinander auszukommen.“

 

Ja, das ist die Herausforderung. Christinnen und Christen aller Konfessionen können dazu etwas beitragen. Um es nochmal mit dem alten Köbner zu sagen: „Ohne eitle Prachtentfaltung“ und „aufgenähten Gelehrsamkeitsflitter“.

Vielleicht „im groben Kittel einer unbeholfenen Sprache“, aber jedenfalls „ohne Schutzwaffen gegen Angriffe der rohen physischen Gewalt, des verfolgenden lichtscheuen Hasses.“

Modern gesagt: gewaltlos und glaubwürdig. Frei und gleich.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Am Sonntagmorgen