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Wo du hingehst, da will ich auch hingehen. Wo du bleibst, da bleibe ich auch. Wo du stirbst, da sterbe ich auch. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.
(Rut 1,16)
Schöne, bekannte Worte, häufig zu hören bei Trauungen. Vielleicht hat ja Dichterfürst Goethe auch ihretwegen gemeint, dass die biblische Geschichte, aus der sie stammen, „als das lieblichste kleine Ganze betrachtet werden kann, das uns episch und idyllisch überliefert worden ist.“
Lieblich-idyllisch? Ursprünglich spricht sich diese Sätze nicht ein gerührt-glückliches Hochzeitspaar in Augen und Herz. Eine junge Frau sagt sie zu ihrer Schwiegermutter. Statt geschmückte Kirche - staubige Straße. Statt fröhliches Fest - beschwerliche Wanderung. Statt festliche Stimmung - bedrückende Krise.
Die Geschichte von Rut und Noomi. Nachzulesen im Alten Testament.
Das Buch Rut ist das weiblichste Buch der Bibel, durchgängig aus Frauenperspektive geschrieben. Es gibt sogar Vermutungen, dass es als einziges biblisches Buch von einer Frau verfasst sein könnte. Es ist keine historisch belegte History, keine „His“-Story, sondern - so das Wortspiel des Theologen Jürgen Ebach - eher eine „Her“-Story. Jedenfalls eine fein gesponnene, vielschichtige Erzählung.
Die alte Geschichte ist über die Jahrtausende und völlig andere Lebensumstände hinweg durchsichtig für Erfahrungen heute. Auch und gerade in diesen Corona-Zeiten. Das ach so selbstverständlich erscheinende Leben bricht zusammen. Gewohnte Sicherheiten brechen weg. Und die Frage auf: Wie kann ich diese Krise überleben, vielleicht sogar überwinden?
Zu der Zeit entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem im Land Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen mit seiner Frau Noomi und seinen beiden Söhnen. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. Und Elimelech, Noomis Mann, starb und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. Die nahmen sich moabitische Frauen: Die eine hieß Orpa, die andere Rut. (Rut 1,1-4)
Dramatische Ereignisse, nüchtern erzählt: Von einem Tag auf den andern ist das gewohnte Wohlstands-Umfeld – Bethlehem meint „Haus des Brotes“ - kein guter Ort mehr. Das sozial und wirtschaftlich abgesicherte Leben – einfach weg. Stattdessen: Hunger, Flucht. Überleben: Wie? Wo? Mit wem?
Zu freundlichen Gastgebern, ja Heimatgebern werden für die Wirtschaftsflüchtlinge ausgerechnet die seit Urzeiten verachteten Feinde, Leute aus einem Volk zweiter Klasse. Dass Noomis Söhne sogar Frauen aus Moab heiraten - ein Unding. Diese Grenzüberschreitung – eigentlich streng verboten.
Die Rut-Noomi-Geschichte ist eine Gegengeschichte zur damals gültigen Regel. Die Bibel selbst kommentiert hier kritisch ihre eigene Tradition, ihr Rechtssystem. So lockt diese persönliche Erzählung ihre Leser*innen: „Seht mal, so könnte es doch auch sein.“
Denn gerade in einer Krise zeigt sich: Es gibt Wichtigeres, als auf Regeln zu beharren. Anscheinend festgezurrte Grenzen sind nicht unüberwindbar. Hass ist nicht alternativlos. Solidarität kann wachsen. Auch zwischen Menschen, die sich eigentlich fremd, sogar feind sind. Aber zugleich zeigt sich: Die Krise verlangt langen Atem. Sehr langen.
Zehn Jahre nach ihrem Mann sterben auch Noomis Söhne, kinderlos. Ihre Namen hatten es angedeutet: Machlon, der Kränkliche, und Kiljon, der Schwächliche. Damit verliert Noomi alles. Ihre Versorgung, ihren Schutz. Ihre Lebensfreude, ihre Zukunft. Schluss. Aus. Ende. Absoluter Shut-Down.
Aber: Noomi gibt nicht auf. Sie entscheidet sich, mit ihren Schwiegertöchtern zurückzukehren in ihre alte Heimat. Denn in Bethlehem soll es wieder Brot geben. Ein überaus mutiger Plan für die schutzlose Witwe.
Und ein Beispiel für das, was heute als Resilienz bezeichnet wird: die psychische Widerstandskraft, eine Krise ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen, ja, sogar gestärkt aus ihr herauszuwachsen.
Resilienz - das meint zunächst: Eine schwierige, krisenhafte Situation buchstäblich wahrnehmen. Akzeptieren, wie es nun mal ist. Dabei nicht blauäugig darauf hoffen, alles könnte einfach irgendwann so weitergehen wie vor der Krise, sondern weitsichtig alternative Wege suchen. Wege, die durchaus auch zurückführen können: Wo komme ich her? Was hat mich geprägt und stark gemacht? Was war und ist mir wirklich wichtig?
Akzeptieren, Umdenken, Umkehren. Zurück zu den Wurzeln. Nicht depressiv, sondern kreativ alte und neue Kraftquellen entdecken. Brot für die Zukunft.
Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, sprach Noomi zu ihren beiden Schwiegertöchtern: "Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter. Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an mir getan habt." (Rut 1,8)
Das ist wirklich stark und vorbildlich: Statt sich in ihrer Not anzuklammern, gibt Noomi ihre Schwiegertöchter Orpa und Rut frei für ihr eigenes Leben. Segnet sie sogar dafür. Bedrängt sie richtig, in die Geborgenheit ihres vertrauten Sippenverbands zurückzukehren. Statt der üblichen Rede vom „Vaterhaus“ hier die überraschend weibliche Formulierung: „ins Haus ihrer Mutter.“
Orpa – der Name bedeutet „die den Rücken Kehrende“ – entscheidet sich schließlich zur Rückkehr. Sie wird die freigebende Liebe ihrer Schwiegermutter nicht vergessen haben. Rut – der Name bedeutet „Freundin, Gefährtin“ - lässt sich nicht umstimmen. Sie lehnt den gut gemeinten Rat selbstbewusst ab und bindet mit den berühmten Worten ihr Leben mit aller Konsequenz an das ihrer Schwiegermutter.
Auch das gehört zu Resilienz in der Krise: Eigene Bedürfnisse klar kommunizieren. Zugleich die der Anderen achten. Menschen bewusst loslassen und gerade dadurch innerlich verbunden bleiben. Und trotz aller Verunsicherung den Mut haben, sich mit anderen zu verbünden. Solidarisch, über Grenzen von Generation, Prägung, Herkunft hinweg einen gemeinsamen Weg suchen.
Nach langer Wanderung kommen Rut und Noomi in der alten Heimat an.
Und schon am Stadttor bricht es aus Noomi heraus:
Nennt mich nicht Noomi, 'die Liebliche', sondern Mara, 'die Bittere'. Denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan. Voll zog ich aus, aber leer hat mich der Herr wieder heimgebracht. Warum nennt ihr mich denn Noomi, da doch der Herr mich gedemütigt hat und der Allmächtige mir Leid angetan hat? (Rut 1,20)
Erschütterung bis in die Tiefe der Identität! So „bitter“ ist die Krise, dass die „liebliche“ Noomi nicht mal mehr ihren Namen tragen will. Sie schreit und klagt, heftig klagt sie auch Gott an. Ähnelt damit Hiob und wird wie er Zeugin für einen Glauben, der gerade deshalb stark wird, weil er zweifelt und streitet.
Auch das gehört zur Resilienz: Bittere Gefühle rauslassen. Perspektivlosigkeit beklagen. Schuldige anklagen. Gegen Ungerechtigkeit protestieren. Nur so kann wieder Lebensfülle hineinkommen in das, was jetzt einfach nur leer ist. Liebliches Leben in bittere Sinnlosigkeit.
Wie ein Baum im Sturm des Lebens. Dieses Bild für Resilienz gefällt mir. Der heftige Krisensturm zerrt am Lebensbaum. Reißt ihn fast aus. Aber der Baum widersteht. Denn seine Wurzeln sind tief. Er wächst weiter. Nicht mehr so gerade und elegant. Eher schief, krüppelig. Aber einzigartig. Vielleicht sogar schön.
Rut und Noomi kommen zu einer besonderen Zeit in Bethlehem an: zur Zeit der Gerstenernte. Jeden Tag darf Rut Ähren lesen auf den abgeernteten Feldern von Boas, wohlhabender Grundbesitzer und weitläufiger Verwandter von Noomi. Ein Armenrecht, eine bescheidene soziale Grundsicherung in Krisenzeiten. Und Boas – sein Name bedeutet „in ihm ist Stärke“ - erweist sich als wirklich stark, nämlich als achtsam gegenüber der verarmten Frau:
Hörst du wohl, meine Tochter? Du sollst nicht auf einen anderen Acker gehen, um aufzulesen, sondern halte dich zu meinen Mägden. Ich habe meinen Knechten geboten, dass niemand dich antaste. (
Rut 2,8)
Ein Lichtblick im Krisen-Dunkel: Menschen, die als Stärkere souverän und selbstlos ihre Stellung und ihre Möglichkeiten nutzen, um Schwächere zu schützen.
Aber der Weg heraus aus der Krise bedeutet auch Arbeit. Vielleicht mit gebeugtem Kreuz und dem Blick zu Boden. Ähren, sozusagen kleine gute Erfahrungen, aufsammeln - das ist auch anstrengend. Ein alltägliches Resilienz-Training. Buchstäblich notwendig. Und ein Stück neue Normalität. Wie wohltuend: Nach diesem ganzen verstörenden Chaos wieder ein regelmäßiger Rhythmus. Endlich wieder für sich selbst sorgen. Satt werden. Von Tag zu Tag.
Irgendwann aber wird es Zeit, über den Tag hinauszudenken. Denn jede Erntezeit endet. Eine langfristige Perspektive muss her. Noomi erkennt in Boas einen sogenannten „Löser“, d.h. den Mann, der nach altem Recht eine verwitwete Frau heiraten soll, um sie wieder einzubinden in die familiäre Gemeinschaft. Und die lebenskluge ältere Frau einwickelt einen Plan für ihre junge Freundin.
Boas worfelt in dieser Nacht Gerste auf der Tenne. So bade dich und salbe dich und lege dein Kleid an und geh hinab auf die Tenne. Gib dich dem Mann nicht zu erkennen, bis er gegessen und getrunken hat. Wenn er sich dann schlafen legt, so geh hin und decke seine Füße auf und leg dich hin, so wird er dir sagen, was du tun sollst. (Rut 3,3)
Ein risikoreicher Plan, voll erotischer Anspielungen. Die schöne Rut tut, was Noomi sagt. Aber Boas nutzt die Situation nicht aus. Er versteht das Zeichen, die Bitte um Lösung. Unkonventionell überträgt er seine traditionelle Verpflichtung auf die liebenswürdige Frau aus dem fremden Volk.
Was in der Nacht auf der Tenne passiert - oder eben auch nicht - da bleibt die Erzählung diskret. Vertrauensvolles Aufdecken, Zudecken. Geborgenheit statt Angst. Gott selbst breitet seine Flügel über die beiden. Und die belastende Krisengeschichte klingt hier fast wie eine zarte Liebesgeschichte.
Ja, Krisenbewältigung braucht die Eigeninitiative. Auch den Mut zum Risiko. Einen Vorschuss an Vertrauen. Aber vielleicht ist die Lösung des Lebensknotens, die Erlösung aus der Krise, immer auch ein Geheimnis. Ein erstrittenes Geschenk.
Die Geschichte von Rut und Noomi hat ein hollywoodreifes Happy End: Zwar kommt am nächsten Morgen noch ein anderer Löserkandidat mit dem abfälligen Namen „Soundso“ ins Spiel. Der scheidet aber aus, weil er nur am Gewinn interessiert ist, nicht am Menschen. So sind es dann Rut und Boas, die heiraten. Bald bekommt Rut einen Sohn, im alten Orient das Zeichen für gelingendes Leben.
Und auch für Noomi fügen sich die schmerzhaften Brüche zusammen. Ihr leeres Leben füllt sich mit Freude und Zukunft. Die anderen Frauen, die Noomi in all ihrer Bitterkeit erst kaum wiedererkannt hatten, beglückwünschen sie jetzt zu diesem „Sohn“, mit dem sie ja gar nicht verwandt ist:
Der wird dich erquicken und dein Alter versorgen. Denn deine Schwiegertochter, die dich geliebt hat, hat ihn geboren, die dir mehr wert ist als sieben Söhne! (Rut 4,15)
Die Krise wird wirklich zur Chance. Zu einer Chance für positive Veränderung - im Denken und Handeln, persönlich und politisch. Fast revolutionär klingt, was die Leute in Bethlehem sich wünschen: Die fremde Ausländerin Rut soll so wichtig werden für das Volk Israel wie seine bekannten Stammmütter Rahel und Lea. Interessant auch hier noch einmal der weibliche Akzent im sonst ja männerdominierten Bibel-Stil.
Am Ende der Geschichte, im Nachspann sozusagen, viele Namen, ein verzweigter Stammbaum: Rut wird über ihren Sohn Obed - das bedeutet „der Fürst“ - die Urgroßmutter von David, dem größten König Israels. Aus dessen Geschlecht wiederum - so das Neue Testament viele Jahrhunderte später - stammt Jesus von Nazareth.
Noomi und Rut, Boas, Obed, David. Was für eine Patchwork-Familien-Geschichte! Sie lockt zur Zuversicht, auch heute:
„Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt.
Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“