In Deutschland werden Pride-Paraden zum Christopher Street Day immer öfter bedroht. In Ungarn hatte die Orbán-Regierung sie verboten – sie fand trotzdem statt. Was steht auf dem Spiel? Für unsere Autorin ist das auch eine Glaubensfrage.
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In München, Eberswalde, Leipzig und Regensburg haben sie schon gefeiert. Köln, Pirna, Traunstein und Nürnberg kommen noch. An den Rathäusern wehen die Regenbogenfahnen, und die Stadt erlebt einen bunten Rausch: Drag Queens auf den höchsten High Heels und starke Frauen auf markigen Motorrädern. Schon seit Mai, aber besonders im Juni und Juli wird in Deutschland der CSD gefeiert, der Christopher Street Day.
Schwule und Lesben, Transgender und Bisexuelle, Freunde und Familie feiern laut und farbenfroh und kämpferisch, dass es sie gibt und dass es gut so ist. Bis es zu dieser bunten Feier des Lebens kommen konnte, war es ein langer Weg. Er hat vor weit über 50 Jahren in der Christopher Street in New York begonnen: Schwule, Lesben, Drag Queens und Transpersonen wollten sich nicht mehr verstecken. Sie wollten sich nicht mehr schlagen lassen. Sie wollten sich nicht mehr demütigen, einschüchtern und verhaften lassen.
Am frühen Morgen des 28. Juni 1969 wollte die Polizei eine ihrer willkürlichen, gewalttätigen Razzien durchführen im Stonewall Inn, einer Bar für Homo- und Transsexuelle. Aber anders als sonst ließen sich die Drag Queens, Lesben und Schwulen nicht einfach drangsalieren und abführen. Sie schlugen zurück. Sie probten den Aufstand. Genug ist genug. Sie kamen aus der Dunkelheit ihrer Kneipe heraus und traten in das Licht des frühen New Yorker Morgens. Sie haben sich gezeigt – so schön und so special, wie jeder und jede von ihnen war.
Coming-out, das heißt wörtlich: rauskommen. Rauskommen aus dem Versteck, aus der vermeintlichen Sicherheit, raustreten aus dem Finstern ins Licht. Coming-out heißt, sich so zu zeigen, wie man ist. Unsicher und stolz zugleich, übermüdet und entschlossen. Zu sich selbst finden und Freiheit gewinnen. Das ist auch ein Glaubensthema. Das stellt die Kirchen vor die Frage: Welches Unrecht haben wir in der Vergangenheit queeren Menschen angetan, dass sie sich verstecken mussten? Und was tun wir heute, damit Menschen frei leben können?
Den Mutigen damals in New York hat die Community viel zu verdanken. Queere Menschen in Europa stehen auf ihren Schultern und haben sich über die Jahre viele Rechte erkämpft. Rechte, die in Gefahr sind. Nicht nur im autoritär geführten Ungarn, wo in Budapest der CSD verboten werden soll. Auch in Deutschland wehen nicht mehr überall die Regenbogenfahnen an öffentlichen Gebäuden ganz selbstverständlich als Zeichen der Solidarität, als Zeichen für Menschenrechte. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der queer- und transfeindlichen Übergriffe um 40 Prozent gestiegen.
In Regensburg kann die Parade zum Christopher Street Day nicht durch die Altstadt ziehen, weil es ein Drohschreiben gab. In Wernigerode im Harz hat ein Mann angekündigt, mit "70 Schuss" auf dem dortigen CSD aufzutauchen. Die Folge: Immer mehr CSDs, die friedlichen Feiern der Vielfalt und des Lebens, können nur noch mit massivem Polizeiaufgebot stattfinden.
Eine der großen Hymnen der queeren Szene. "I Will Survive", ich werde überleben. Ich werde leben. Hier mal nicht in der fröhlich-trotzigen Disco-Version von Gloria Gaynor. Diese leise, trotzdem kraftvolle Interpretation passt grade irgendwie besser. Ein Auferstehungslied: Du kriegst mich nicht unter. Ich bin so weit gekommen, ich habe mir so viel erkämpft. Das lass ich mir nicht nehmen.
Viele der diesjährigen CSD-Paraden stehen unter dem Motto "Nie wieder still". Nie wieder so tun, als ob ich jemand anders wäre. Nie wieder gequält lächeln bei homofeindlichen Witzen. Nie wieder die Freundin verleugnen. Wer ein Coming-out hinter sich hat, weiß, wie viele schlaflose Nächte und Tränen und auch Scham dem vorausgehen: Wie sage ich es den Eltern, dass ich lesbisch bin? Hoffentlich merkt im Sportverein keiner, dass ich schwul bin. Jugendliche haben Angst, sich dazu zu bekennen, dass sie das gleiche Geschlecht attraktiver finden als das andere.
Auf den Schulhöfen ist "Schwuchtel!" nach wie vor ein gängiges Schimpfwort. Ich kenne Schwule, die sich am Arbeitsplatz nicht outen, weil sie Angst vor komischen Blicken, vor Tuscheleien hinter vorgehaltener Hand und vor Nachteilen in ihrem Beruf haben. Dazu kommt die neue Angst vor Hatespeech und vor rechten Schlägern und auch davor, dass die Solidarität in der Gesellschaft schwindet.
Ein Coming-out ist ein langer und oft ein schmerzhafter Prozess. Die Angst ablegen, ich wäre die Einzige oder ich würde verstoßen. Das falsche Selbstbild hinter sich lassen, sich die antrainierten Verteidigungssätze abgewöhnen. Das klappt nicht von heute auf morgen. Das ist auch nicht mit einem Mal abgeschlossen.
Aber das erste Mal zu sagen "Ich bin lesbisch", "Ich bin queer", das befreit und empowert fürs Leben. Man fühlt sich ein bisschen wie neugeboren. Hier bin ich, so wie ich geschaffen wurde, so wie ich mein Leben soll und will. Out of the closet. Raus aus dem Kleiderschrank! Hallo, das bin ich!
Ich finde ja, in der Bibel gibt es eine der berührendsten Coming-out-Geschichten überhaupt. Sie steht im Johannesevangelium (Johannes 11). Die Schwestern Maria und Marta lassen Jesus holen, weil ihr Bruder Lazarus schwer krank ist. Zwischen den Geschwistern und Jesus gibt es eine innige Verbindung. "Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus", heißt es (V. 5). Als Jesus endlich nach Bethanien kommt, wo die drei leben, da ist Lazarus bereits tot. Er liegt seit vier Tagen im Grab. Freunde und Familie haben sich eingefunden, um mit den Schwestern zu trauern.
Ein tiefes Gespräch ergibt sich zwischen Marta und Jesus. Es ist das theologische Herz dieser Geschichte. Jesus sagt zu Marta: "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und wer lebt und an mich glaubt, wird niemals sterben." Und dann fragt er Marta: "Glaubst du das?" Marta antwortet: "Ja, das glaube ich – du bist der Christus, der in die Welt kommt!"
Marta vertraut Jesus. Sie glaubt an ihn. Sie glaubt, dass er Leben bringt in seiner ganzen Fülle und Vielfalt, mit allem, was dazugehört. Und ich glaube: Mit allen, die dazugehören: Du und ich und Marta und Jesus und der schwule Sohn, die lesbische Arbeitskollegin, die Transfrau und wer sich als nonbinär identifiziert.
Leben heißt ja: Dasein dürfen. Heißt: miteinander reden und feiern. Heißt: frei sein, lieben, mit Unglück zurechtkommen und Glück finden. Leben heißt: heil werden bis in die innerste Mitte.
Ich bin das Leben, sagt Jesus. Er verkörpert dieses Da-sein-Dürfen und Da-sein-Können. Ganz Mensch sein, das ist bei Jesus grenzenlos. Nicht einmal das Sterben wird es zerstören. So verstehe ich Auferstehung.
Jesus sagt: "Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird niemals sterben. Glaubst du das?" Ja, das glaube ich. Ich glaube: Jede und jeder kann teilhaben an Jesu Lebendig-Sein, hier und jetzt und für immer. Jede und jeder, die an ihn glauben, kann eine vertrauensvolle Verbindung eingehen mit diesem Jesus, kann leben und handeln mit der Liebe als rotem Faden.
Marta hat ihr Coming-out als eine, die an Jesus glaubt. Als eine Jüngerin, eine Christusanhängerin. Marta entscheidet sich, Jesus zu vertrauen, den inneren Stein wegzurollen und sich einzulassen auf die Liebe und das Leben. "I‘ve got all my life to live, I‘ve got all my love to give." Ich habe mein ganzes Leben zu leben, ich habe all meine Liebe zu geben. I will survive.
In der biblischen Erzählung von Jesus und den Geschwistern Lazarus, Maria und Marta geht es weiter: Als sie zum Grab von Lazarus kommen, weint Jesus. Da liegt der Freund, eingewickelt in Leichentüchern, hinter einem großen Stein.
Das hält Jesus nicht ab. Er ruft mit lauter Stimme: "Lazarus, komm heraus!" Und "der Tote trat heraus, Füße und Hände mit Grabbinden umwickelt und das Gesicht mit einem Tuch verhüllt. ‚Befreit ihn von den Tüchern und lasst ihn gehen!‘, befahl Jesus den Umstehenden." (Johannes 11,43f)
Ich lese diese Geschichte als eine Coming-out-Geschichte. Ein Coming-out ist wie eine Auferstehung, wie ein Schritt heraus aus dem Finstern, verschämt und stolz zugleich, übermüdet und tatkräftig in einem.
Es braucht jemanden, der einem Mut zu diesem Schritt macht. Eine Stimme, laut und vertrauenserweckend, die sagt: "Hab keine Angst. Lass dich nicht totreden. Lass dich nicht totschweigen. Komm heraus, leg das Alte ab, das dich fesselt und dein wahres Gesicht verhüllt."
Komm heraus. Coming-out. Ich werde herausgerufen. Ich werde zu der, die ich bin. Ich werde ganz, ich werde heil. Ein Coming-out führt zu Integrität mit mir selbst und mit anderen. Und das ist ein Grund zu feiern! Bunt und vielfältig und laut. Alle sollen es sehen. Wir gehören dazu, wir sind Teil dieses Lebens in seiner Fülle und Vielfalt.
Das zeigen und feiern die Paraden zum Christopher Street Day landauf, landab. Wer sie verbieten will, wer die Solidarität aufkündigt, wer droht und Hassparolen schreit oder gar zum Baseballschläger greift, braucht ein Coming-out der Liebe.
Auf den CSD-Paraden werden Regenbogenschilder hochgehalten, auf denen steht: "Herz über Hass" und "Wie kann man es hassen, wenn Menschen sich lieben?" Der Bürgermeister von Budapest hat nun zum CSD eingeladen. "Wir feiern den Tag des Budapester Stolzes", sagt er, "oder wie man auf englisch sagt: Budapest Pride." An die 200 000 Menschen sind gekommen!
In Deutschland finden CSD-Paraden gerade auch in kleinen Ortschaften statt, oft getragen von einem Bündnis, das weit über die queere Szene hinausgeht. Weil nicht nur queere Menschen das Leben in Freiheit feiern wollen, bunt und laut und kämpferisch. Da sind Menschen, die schauen gar nicht komisch beim Wort "lesbisch". Die lassen einen gehen, so wie man ist. Die befreien von den Grabtüchern und helfen, die alten Ängste abzuschütteln. Die handeln in Jesu Namen.
Ich glaube: Wo immer ein Mensch dem Ruf von Jesus folgt: "Komm heraus!", dort bahnt sich ein Ostern an – das Fest des Lebens. Wo immer eine auf Jesu Wort hin sich traut, ganz Mensch zu sein, und wo immer einer der anderen dabei hilft, da fängt Auferstehung an.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1.- 3. Holly Miranda, I will survive
Literatur dieser Sendung:
1. https://taz.de/Pride-Monat-/!6090050/, abgerufen am 18.6.25
2. https://www.zdfheute.de/panorama/kriminalitaet/csd-regensburg-demonstration-bedrohungslage-polizei-100.html, abgerufen am 18.6.25
3. https://taz.de/Bedrohung-mit-Schreckschusswaffen/!6090262/ abgerufen am 18.6.25.
4. https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-06/viktor-orban-budapest-pride-ungarn-verbot, abgerufen am 30.06.25