Pastor Matthias Lemme
Hochstapeln
Wie ich glaube
01.06.2025 08:35

Allein in Manhattan. Die Stadt fühlt sich kalt an. Bis eine Jazz-Vesper in Saint Peter’s Church das Daseinsgefühl auf links dreht. In Richtung: Ich bin aufgehoben. Ein Kreisen um diese alten Worte: Gott. Glauben


Nach der Ausstrahlung können Sie an dieser Stelle den Sendetext nachlesen.

Anfang Januar. New York, Ecke 54 Street/Lexington Avenue. Der Himmel in Manhattan ist aufgeräumt, aber die gigantische Leuchtreklame an den Hochhäusern stiehlt ihm die Show. Der Nachmittag flimmert wie das Schaufenster eines Fernsehgeschäfts. Es ist kalt. Ich fühle mich fremd und klein und allein – so wie seit Jahren nicht mehr.

Ein paar Schritte später lege ich Mütze und Schal neben mich auf das gelb-rote Polster einer schlichten, modernen Kirchenbank. Ein Mann am Klavier verbiegt eine Handvoll single notes. Der "Master of Ceremonies", ein Pastor in weißer Robe, wickelt mich in warme Worte.

Pastor:
It's a great gift to be together for music and for prayer. It's really a time to be also together in community and so I hope that you will feel as though wherever you've come from tonight you found a friend in this place. Certainly, you have a friend here at Saint Peter's vespers…

Es ist ein großartiges Geschenk, hier zusammen zu sein. Für Musik und um zu beten. Wir sind zusammen eine Gemeinschaft und ich hoffe, woher immer Sie kommen, dass Sie sich heute Abend so fühlen, als hätten Sie hier einen Freund gefunden. Ganz sicher sind hier Gleichgesinnte, bei der Saint Peter’s Jazz Vesper…

Das verspricht Jared Stahler, einer der evangelisch-lutherischen Pastoren von Saint Peter. Die Kirche ist gebaut wie ein Zelt und ich sitze mittendrin. Wärmewolken streifen meine Haut. Saint Peter‘s Church ist eine Pyramide inmitten der Megacity. Ich sitze in einer Herberge aus Beton, in einem Zelt, in einem Traum. Der Traum schraubt sich in die Höhe. Der Traum hat Fensteröffnungen in den Himmel.
Der Mann mit den Worten zündet eine Kerze an.

Pastor:
A symbol of God's presence at our midst, a symbol of welcome and hospitality to folks who have come in from outside much like we all have done today: God's light shines light of life eternal.


Ein Symbol für Gottes Gegenwart in unserer Mitte, ein Symbol des Willkommens und der Gastfreundschaft gegenüber den Menschen, die von außerhalb kommen, so wie wir alle heute: Gottes Licht strahlt das Licht des ewigen Lebens aus.

Die Sängerin greift zum Mikrofon. Sie singt die große englische Hymne "Abide with Me". Das Lied ist 180 Jahre alt. Es klingt für mich, als würden die Worte und Töne genau jetzt, in diesem Augenblick, das erste Mal aufeinandertreffen.

Bleibe bei mir, denn die Nacht bricht schon herein.
Die Dunkelheit wird dunkler, Lord, bleibe bei mir.
Wenn andere Helfer versagen und wenn der Trost vergeht:
Du bist die Hilfe der Hilflosen, bleibe bei mir.


Kein Kitsch, das alles. Nicht für mich und nicht für die anderen 60 Seelen, die hergekommen sind. Menschen aus der Stadt, aus New Mexico, aus Europa, Menschen mit und ohne Papiere, Jazz-Fans, Träumerinnen.

Wie kann es sein, dass ich mich gerade noch gottverlassen gefühlt habe und jetzt, ein paar Herzschläge später, wie in einem unbekannten Zuhause? Wie kann es sein, dass die Aura eines Raums mein Daseinsgefühl binnen Minuten auf links dreht? Bin ich in die Imagination gedriftet? Zieht hier irgendwas rein? Bin ich nicht ganz dicht?

Ich glaube.
Ich kann nichts anderes sagen als: Ich glaube.
Ich atme, ich esse, ich trinke, ich suche, ich falle, ich friere, ich liebe – ich glaube.

Ich glaube, dass eine unbemannte Energie um mich kreist. Dass sie einen Teil meines Seins auf Händen trägt. Eine Macht aus dem Off, ein spirit, eine Superkraft. Ich glaube, dass diese Kraft an der Diskokugel des Lebens dreht, immer weiter. In ihren Spiegelsteinchen sehe ich mich. Spiegelverkehrt. Erkenne etwas von mir. An guten Tagen sehe ich mich besser. Sehe meinen Kiez. Sehe Menschen, die ich liebe. Sehe andere mit verwischter Kontur. Und ich sehe noch viel weiter: Flüsse und Länder und Träume. Auch Träume.

Jazz Vesper in Saint Peter‘s Church. Der Himmel geht mir unter die Haut, hier in Downtown Manhattan. Ich spüre Puls, der nicht meiner ist. Und ich staune, wie dieser Puls in Sekundenbruchteilen meinen Herzschlag entert. Bumm. Bumm. Bumm-bumm.

Der Mann mit den Worten hält uns eine Geschichte hin. Die von den Weisen aus dem Morgenland, magi – Magier oder Heilige. Die Neugier hat sie in die Ferne getrieben, vielleicht auch die Sehnsucht. Also sind sie los, denke ich, ohne Airbnbs, ohne Apps, ohne Kreditkarte. Sie sind los, weil es sie juckt. Weil es sie zieht. In Gedanken mische ich mich unter sie.

Ich bin 47. Bin einer von denen in der Mitte des Lebens. Mit ein bisschen Optimismus. Einer von denen, die zu viel arbeiten oder denen die Erfüllung dabei fehlt, vielleicht sogar jeglicher Sinn. Einer von denen, die Kinder haben oder auch nicht. Die Beziehungen haben oder auch nicht. Die Dreck am Stecken haben, die manchmal denken, sie lebten auf einer Baustelle – und denen hin und wieder eine Frage vor die Füße fällt. Die heben sie dann auf und kauen auf ihr rum, für eine Weile oder auch zwei.

Ich habe das Glück, Luft holen zu dürfen, hier in New York. 7000 Kilometer auf Abstand zu gehen zu meinem Wohnort Hamburg. Ich mache kein Sightseeing. Ich laufe durch die Straßen. Ich höre Musik. Ich schlafe. Ich denke. Ich hänge mich in die unsichtbaren Seile einer größeren Kraft – ich glaube.

Weit weg bin ich von meinen Gewohnheiten – von Pflicht und Kür, von Kindern und Freunden, von Vorwürfen, Gewissensbissen und Routinen. In einem Moment fühle ich mich in New York verlassen, wie ausgesetzt, und im nächsten Moment gehalten. Wechseldusche. Kalt, heiß, heiß, kalt. Dass mich etwas hält, ein größerer Puls, spüre ich tagelang überhaupt nicht und dann, mit einem Wimpernschlag, bis in die Fingerspitzen.

Ich glaube.
Und wenn ich mir zugucke beim Glauben, denke ich: Ich bin ein Hochstapler, ich – mit meinen Glaubenssätzen.

Ich glaube daran, dass es einen Sog gibt, der mich in der Schwebe hält. Wie an elastischen Bändern. Wenn ich falle, falle ich. Aber nicht ins Bodenlose. Irgendwann zieht mich irgendwas wieder nach oben. Mal ist es ein Wort, mal ein Ort.
Ich glaube, dass der Raum zwischen Himmel und Haut so etwas ist wie ein elektromagnetisches Feld. Ich bewege mich wie eine Flipperkugel zwischen Kräften und Banden, in der Schwerkraft und im Gefälle, aber aus dem Spiel geworfen werde ich nicht.

Der Mann mit den Worten, Pastor Jared Stahler von Saint Peter‘s Church, ist sparsam mit seinen Sätzen. Er sagt kein Wort zu viel. Kein Amen. Keine Phrase. Dafür ein staunender Blick. Wenn er betet, haben die Worte auch mal Pause. Ein paar Töne vom Klavier legen sich hinein und spinnen halbfertige Gedanken weiter. Nehmen sie mit, bringen sie zurück, verwandelt, mal in grau und mal in blau.

Zwischen den Worten und zwischen den Tönen, leuchtet es mir auf: Wie soll ich von Gott irgendetwas mitbekommen, wenn ich keine Lücken lasse? Jetzt habe ich Gott gesagt. Kaum ein Wort löst solche widersprüchlichen Gefühle aus, bei meinen Nachbarinnen im Haus, bei meinen Freunden, auch bei mir. Gott. G-O-T-T. Ursprung allen Seins. Und aller Zuschreibungen. Macho-Mackerei. Allmacht und Zartheit. Kriegslust und Friedenstauben. Zorn. Und Freiheit. Und Eifersucht. Und Liebe.

Ich sage: Ich glaube. Also lasse ich Lücken. Ich gebe den Raum frei für das, was meine Sinne nicht durchmessen können, was mein Kopf nicht begreift. Manchmal sage ich Gott zu diesem spirit aus dem Off. Zu diesem Puls, der sich auf meinen legt. Manchmal sage ich das: Gott. Das Du bekommt einen Namen. Du bekommst einen Namen. Ich kann diesen Namen aussprechen, ohne ihm eine zu große Macht zu geben. Oder einen Bart. Oder ein Geschlecht. Ich kann diesen Namen aussprechen in aller Unkenntlichkeit. Nicht der Name zählt, sondern das, was ihn mit Leben füllt.

Ich glaube an das Uneindeutige – an das, was dazwischen liegt: zwischen dem Du und mir. So wie die meisten an die Liebe glauben, ohne sie mit den Händen greifen oder in nachweisbare Einzelteile zerlegen zu können. So glaube ich: Gott.

Der Mann mit den Worten bläst die Kerze aus. Und spricht einen Segen, ohne Geste, ohne Pathos.


Pastor:
Again as you go forth from this place this night go with the blessing of the one who brings light and life to all creation. Especially this night go forth and be that light. The world needs you. Thanks be to God.

Wenn du diesen Ort heute Abend verlässt, geh mit dem Segen dessen, der der ganzen Schöpfung Licht und Leben bringt. Geh hinaus und sei dieses Licht. Die Welt braucht dich. Gott sei Dank.

Der letzte Song setzt einen Doppelpunkt. Geh hinaus. Da kommt was. Die Zukunft ist mehr als nur Wiederholung, sie ist auch unbebautes Land.

Ich laufe durch die große Stadt. Kreuz und quer. Der feiste Trump Tower. Daneben ein Wolkenkratzer, der als Louis Vuitton-Handtasche verkleidet ist. Die Narben des 11. September, fast ein Vierteljahrhundert alt. Ich denke an meine Kinder. Wie sie zur Schule gehen. Ich denke daran, dass eine Tüte Haferflocken hier zehn Dollar kostet. Denke an die nächste Zahnreinigung. Ich denke an die Größe des Universums, in dem ich mich bewegen darf. Ich trage dicke Kopfhörer über meiner Mütze. Höre Musik von ganz hinten, Herzkammer links, da, wo die Schallplatten mit dem Trost liegen.

Und so kalt mir der Wind gegen die Stirn weht, so aufgehoben fühle ich mich. Als ob das Universum, durch das ich bei minus 9 Grad mit kalten Füßen laufe, ein warmer Raum wäre. Als ob meine Antennen höher in den Himmel ragten als all die Wolkenkratzer mit ihrem grellen Licht.

Ich drehe die Musik in meinem Kopfhörer lauter. Aja Monet, eine großartige Lyrikerin, Predigerin, Aktivistin. Ich habe sie hier in einem Jazz Club erlebt und war schockverliebt. Wenn sie ihre spoken words, ihre Gedichte auf die Beats legt, fühle ich mich umarmt. Verbunden und gehalten.

"Meine Liebe sei Ruf und Antwort", flüstert mir Aja Monet durch die Kopfhörer ins Ohr. "Seid das Licht, liebe Freunde, seid magi, Heilige", höre ich den Mann mit den Worten in Saint Peter’s Church zu mir sagen.

Als ob die Kraft, die ich manchmal Gott nenne, als ob diese Kraft uns Menschen hier auf der Straße wirklich ausgedacht hätte – alle, wirklich alle, dich und mich. Als ob dieser spirit aus dem Off zu mir eine Verbindung suchte.

Meine Liebe sei Ruf und Antwort
Lobe die Wimpern und die Augen
Meine Liebe sei ein Fluss wie der Nil, uralt und lang
Meine Liebe sei ein Spiegelbild
Ein Spiegel
Meine Liebe sei mitfühlend, verzeihend, aber nicht dumm…


Ich laufe durch Manhattan.
Mir ist saukalt.
Ich will nach Hause.
Ich will ewig so weiterlaufen.
Ich spüre meinen Puls, der nicht allein der meine ist.
Mehr ein Raum als ein ferner Traum.
Bin ich ein Hochstapler?
Der Januar fühlt sich nach Juni an.
Ich glaube.
Und wie.

 

Musik dieser Sendung:
1. Abide with Me (Gesang & Piano)
2. Improvisation (Piano)
3. Improvisation (Piano) & Gebetsworte
4. Wished on the Moon (Gesang & Piano)
5. Improvisation (Piano)
6. Aja Monet, Why my love?
7. Aja Monet: Wheathering

Link zu den O-Tönen / Live-Mittschnitt:

Live-Mittschnitt der Jazz-Vesper in St. Peter`s Church am 05.01.2025: bei YouTube