Tafel: gemeinfrei via wikimedia commons/rs-foto / https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppe_47#/media/Datei:Gruppe_47_Tafel_retouched.jpg // Bertold Brecht-Denkmal: epd bild/Rolf Zoellner
Literarische Avantgarde und Theologie nach 1945
Aufbruch im Experiment
03.08.2025 08:35

In der Nachkriegszeit maßen Heinrich Böll, Kurt Marti, Dorothee Sölle und andere die Wirklichkeit an den Verheißungen einer Religion, die in ihrem Grund auf Frieden, Gewaltlosigkeit und Würde zielt - das Gegenteil des zuvor erlebten Gewaltregimes.

Sendetext nachlesen:

Das Jahr 1945 markiert eine Zäsur - in der Weltpolitik, in der deutschen Gesellschaft, im Fühlen und Denken vieler Menschen. Der Zweite Weltkrieg war beendet, das NS-Regime besiegt, aber die Zukunft war für viele noch ungewiss. Die Rede ist daher oft von einer "Stunde Null". Doch das trifft nicht ganz, sagt Andreas Mauz, Literaturwissenschaftler und Theologe an der Universität Zürich. Er forscht über Neuanfänge in der deutschsprachigen Literatur nach 1945:

Andreas Mauz:
"Ja, ich würde gerne einsteigen mit einer Relativierung. Also wir kommen ja nicht da-rum rum, Literatur in Epochen zu denken. Dann werden diese Grenzen gezogen, und eine etablierte Grenze ist, dass wir sagen: gut, es gibt Mai 45, und danach kommt die Nachkriegsliteratur. Und das hat immer etwas Problematisches, weil man eben suggeriert, dass eben 45 alles anders wird. Und da muss man betonen, dass eben diese Stunde Null, die vielbeschworene, eben mehr eine Wunschvorstellung war als eine Realität. Der Krieg war zu Ende, aber die Nazis waren selbstverständlich noch da!"

 "Die Mörder sind unter uns", so hieß ein früher Spielfilm aus dem Jahr 1946 von Wolf-gang Staudte, mit Bildern aus dem zerbombten Berlin. Im Film begegnen sich eine KZ-Überlebende, ein traumatisierter, heimgekehrter Soldat, sowie ein Kriegsverbrecher, inzwischen Geschäftsmann; er lebt mit seiner Familie gutbürgerlich und lädt zum Treffen unterm Weihnachtsbaum ein. Damit sind Motive und Konflikte benannt, die die Literatur in den kommenden Jahren und Jahrzehnten beschäftigen werden. Es geht um die Haltung zum Nationalsozialismus, um den Schock über die Gräuel des Holocaust und die Fragen nach dem Warum.   

Nur wenige Literatinnen und Literaten thematisieren die Verbrechen direkt, wie der jüdische Dichter Paul Celan mit seiner "Todesfuge". Oder Nelly Sachs in ihrem Gedichtband "In den Wohnungen des Todes". Ein Auszug: 

Gedicht von Nelly Sachs:
"O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes
Als Israels Leib zog aufgelöst im Rauch
Durch die Luft
(…)
O die Schornsteine
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?"

Während viele nach Kriegsende über ihre Erfahrungen nicht sprechen können, wollen andere es nicht. Während für die einen Schuld und Sühne wichtig sind, möchten andere ungeschoren davonkommen. Und die meisten nur eins: das kleine Leben in der neuen Freiheit wieder aufbauen.  

Bekannte Intellektuelle kehrten aus dem Exil zurück, wie Bertold Brecht, Thomas Mann und Anna Seghers. Die jüdischen Philosophen und Sozialwissenschaftler Max Horckheimer und Theodor W. Adorno hatten in den 20-er Jahren begründet, was später die "Frankfurter Schule" genannt wird, und ihre Arbeit auch im Exil, in den USA weitergeführt, mit einem Blick nach Deutschland. Für die Literatur nach 1945 fand Adorno eine verstörende Formulierung: Das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz sei barbarisch. Gemeint war eine romantisierende Weltsicht in der Kunst, die naive Rede vom Guten, Wahren und Schönen, die Harmonie von Reim und Inhalt. 

Dennoch fanden junge Autoren wie Heinrich Böll und Wolfgang Borchert einen hart-realistischen Ton, um das Leben in Trümmern zu beschreiben. Und kleine literarische Gattungen versuchten sich in radikal neuen Formen, in provokanter Sprache. Andreas Mauz von der Universität Zürich:

"Da gibt es ganz tolle, auch sehr mutige Aufbrüche, und ich würde sagen, dass die konkrete Poesie natürlich ein ganz prominenter Aufbruch dieser Art ist – weil dort pro-grammatisch eigentlich die Lyrik von überkommenen Formen, von überkommenen Aussageverpflichtungen, poetischen Wirkmitteln entlastet wird und zunächst einmal das einzelne Wort ganz prominent in den Blick gerät und das einzelne Wort in seiner Stellung auf dem Blatt Papier."

Aus Worten und Buchstaben werden in grafischer Anordnung Bilder geschaffen. Bekannt ist das Bildgedicht "Schweigen" von Eugen Gomringer. Vierzehn dieser Wörter bilden ein Rechteck auf dem Papier, nur in der Mitte fehlt ein Wort. Eine Leerstelle entsteht, ein blinder Fleck, das "beredte" Schweigen. 

Auch Silben werden gern in der Art eines Schüttelreims getauscht: In der Redewendung "Je nachdem" findet Kurt Marti zum Beispiel den politischen Opportunisten: Jedem nach!  

Andreas Mauz:
"Entscheidende Stilmittel sind sicher der Verzicht auf den Reim und die konsequente Kleinschreibung, wo man eben schon auf den ersten Blick sieht, das ist eine Sprache, die anders funktioniert."

Als ein Spiel mit Elementen, jenseits der Tradition, das schon Anfang des 20. Jahrhunderts in Musik, Malerei und Literatur begann. In den 1950er und 60er Jahren wird die konkrete Poesie, auch experimentelle oder visuelle Lyrik genannt, zum künstlerischen Programm - gegen die ideologisierte Sprache der NS-Zeit, gegen das Verdrängen und die Wiederaufrüstung, für eine neue Kreativität. 

Es gibt eine Vielzahl individueller Sprachexperimente wie etwa Ernst Jandls Lautgedicht "Schützengraben". Er entfernt einzelne Buchstaben aus dem Wort – "schtzngrmm" - und bildet beim Vortrag aus den Lauten Kriegsgeräusche. 

Oder: der Autor und Lehrer Rudolf Otto Wiemer mit seinen "Beispielen zur deutschen Grammatik": 

Gedicht von Rudolf Otto Wiemer:

"unbestimmte zahlwörter

alle haben gewusst
viele haben gewusst
manche haben gewusst
einige haben gewusst
ein paar haben gewusst
wenige haben gewusst
keiner hat gewusst"


Kurze Stücke entstehen, die vor allem eines sind: nicht mehr gefällig. Sondern knapp. Kryptisch. Oft sind sie mit Grafiken kombiniert. Dabei gerät auch religiöse Sprache auf den Prüfstand. 

Ein Auszug aus Reinhard Döhls "Missa profana", einer "weltlichen Messe":

"Moritat 

es begab sich aber
daß das fleisch 
aas ward

und die maden waren weiß
in dem aas

da erging ein gebot
zu waschen die hände
in unschuld"

Eine Entweihung der Weihnachtsgeschichte, wie damals manche fanden, so dass der junge Literatur-Student Reinhard Döhl sich 1960 ein Gerichtsverfahren und ein Veröffentlichungsverbot einhandelte. Dieses hob das Bundesverfassungsgericht aber 1961 in einem Grundsatzurteil wieder auf. 

Zur Avantgarde nach 1945 zählte auch die "Gruppe 47", eine Schriftsteller- und Publizistengruppe um Hans Werner Richter. – In Österreich traf sich regelmäßig die "Wiener Gruppe" um Konrad Bayer und Friederike Mairöcker. Viele von ihnen kannten die Bibel gut. 

Andreas Mauz:
"Das ist eine Generation, die aufgewachsen ist doch in vielen Fällen noch mit einer intakten christlichen Sozialisierung, die Kirche ist noch im Dorf sozusagen, viele dieser Autoren haben Messdiener-Erfahrung gemacht, man sagt da so: erste Fremdsprache Liturgisch, diese Texte sind da, man kann sie nutzen, man kann sie überschreiben, parodieren - und das geschieht in diesen Avantgarden sehr intensiv. Und das ist zugleich auch der Versuch, den politischen Anspruch des Christentums hochzuhalten, das ist da nie zu trennen, Sprachkritik und auch Kritik an einer Kirche, die sich ins Private oder ins Institutionelle meint zurückziehen zu können."

Der katholische Schriftsteller Heinrich Böll schildert in seinen Kurzgeschichten und Romanen, wie sich bigotte Kirchenleute über andere erheben und lustig machen. Damals war das eine Provokation. 

Obwohl die Kirchen der Hitler-Politik wenig entgegengesetzt hatten, galten sie nach wie vor als moralische Autorität. Doch viele Menschen fühlten sich von der traditionellen Kirchensprache nicht mehr angesprochen. Der Theologe Andreas Mauz:

"Es gab eine kirchliche Öffentlichkeit, die ein Bedürfnis hatte nach einem neuen christlichen Sprechen, nach einer neuen christlichen Sprache, die man liturgisch brauchen konnte, die man aber auch auf der Straße brauchen konnte, … weil mit "Danke für diesen guten Morgen" nicht alles gesagt war, es brauchte auch eine andere, eine rauere Sprache, eine gewagtere Sprache als das "Neue Kirchenlied"."

Diese neue Sprache entwirft auch ein anderes Gottesbild. Es ist angelehnt an die theologischen Entwürfe des Schweizers Karl Barth. Als Hochschullehrer in Bonn hatte er schon früh den Nationalsozialismus kritisiert. Nach heftigen Auseinandersetzungen und Repressalien gegen ihn kehrte er 1935 in die Schweiz zurück. 

Karl Barth und seine Schüler deuteten die Dreieinigkeit Gottes als "Sein in Beziehung". Gott sei nicht länger der allmächtige, allwissende, aber einsame und unbewegte "Beweger" des Universums. Der Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti, der bei Barth studiert hatte, versucht, dem Ausdruck zu geben:   

Gedicht von Kurt Marti

"weihnacht

damals 
als gott 
im schrei der geburt 
die gottesbilder 
zerschlug 

und 
zwischen marias schenkeln 
runzlig rot 
das kind lag"


Andreas Mauz:
"Also eine hochtheologische Aussage: Gott zerschlägt im Schrei der Geburt die Gottesbilder. Weil eben Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und die Schwäche und die Begrenzung und das Leiden kennt. Und dann kommt die 2. Strophe, da wird mit dieser Menschwerdung Gottes ganz ernst gemacht. 

Da geht’s tatsächlich rein in die Geburt, Geburt heißt Körper, Geburt heißt Blut, Plazenta - wo also auch der Säugling in seiner körperlichen Verfassung zur Geltung gebracht wird."

Ein neues, menschennahes Gottesbild entsteht. Die Autorin und Theologin Dorothee Sölle leitet daraus ab, dass Gott auf die Hilfe der Menschen angewiesen ist, um sein Reich zu verwirklichen. In ihrem "Credo" heißt es zu Beginn:

"Ich glaube an gott
der die welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein ding das immer so bleiben muss
der nicht nach ewigen gesetzen regiert
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen ordnungen
von armen und reichen
sachverständigen und uninformierten
herrschenden und ausgelieferten

Der den widerspruch des lebendigen will
und die veränderung aller zustände
durch unsere arbeit
durch unsere politik"

Auch Dorothee Sölle war von ihren Lehrern geprägt, darunter der Theologe Rudolf Bultmann mit seinem Appell zur Entmythologisierung biblischer Texte, und Paul Tillich mit seinem Blick auf das, "was uns wirklich angeht". Ernst Bloch mit seinem Werk "Das Prinzip Hoffnung" ermutigte viele auch zu poetischen Visionen.

Heinrich Böll, Kurt Marti, Dorothee Sölle und andere suchten in der Nachkriegszeit ein literarisches Sprechen vor christlichem Hintergrund. Die Wirklichkeit wurde gemessen an den Verheißungen einer Religion, die in ihrem Grund auf Frieden, Gewaltlosigkeit und Würde zielt - das Gegenteil des zuvor erlebten Gewaltregimes. 

Die Gedanken und Sprachexperimente jener Nachkriegsjahre lebten von einer zeitkritischen Haltung, die manchmal aus der Mode gekommen scheint. Deren aufklärerische Kraft aber in Zeiten von Fake News und sogenannter künstlicher Intelligenz neu entdeckt werden will.

Es gilt das gesprochene Wort.
 

Musik dieser Sendung:
1. Conlon Nancarrow, Studies for Player Piano, Study Nr. 4
2. aus Conlon Nancarrow, Studies for Player Piano, Study Nr. 6
3. aus Conlon Nancarrow, Studies for Player Piano, Study Nr. 18
4. Jánosz Tamás, Fortgang / Departure


Literatur dieser Sendung:
1. Nelly Sachs, aus dem Gedichtband "In den Wohnungen des Todes"
2. Rudolf Otto Wiemer, Beispiele zur deutschen Grammatik, Gedicht "Unbestimmte Zahlwörter"
3. Reinhard Döhl, Missa profana, aus dem Gedicht "Morität"
4. von Kurt Marti, Gedicht "Weihnacht"
5. Dorothee Sölle, Meditationen und Gebrauchstexte, aus "Credo"