Schawuot-Feier bei Familie Beck, Berlin 1943; Jüdisches Museum Berlin
Schawuot-Feier bei Familie Beck, Berlin 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2001/89/2, Schenkung von Jizchak Schwersenz
Jugendliche in der Illegalität
Vor 80 Jahren begann in Berlin die Deportation von Jüdinnen und Juden
10.10.2021 08:35

Allgemein galt die Auffassung, es gehe ins Arbeitslager. Das wurde auch verbreitet, und wir gingen in der Tat davon aus, dass dem so sei. Ich möchte heute sagen, wir taten das, weil der Mensch an Schlimmes nicht glauben will, sich ja vielleicht auch gar nicht hätte vorstellen können, was wirklich dann dort geschah.

 

Der jüdische Lehrer Jizchak Schwersenz in einem Interview 2001. Im Jahr 1941 war er 26 Jahre alt.

 

Man sprach von Arbeitslagern und man glaubte, wenn man gut arbeiten wird, wird man diese Zeit überstehen können. Lächerlich, heute gesehen oder später gesehen. Was machten alte Menschen, die mit auf den Transport kamen, in einem Arbeitslager, was machten kleine Kinder, ja zum Teil Säuglinge, in einem Arbeitslager!

 

Die Deportationen der jüdischen Bevölkerung aus Berlin begannen mit einer perfiden Täuschung. Anfang Oktober 1941 hatten die ersten jüdischen Familien die sogenannte "Anordnung zur Abwanderung" erhalten. Ein Behördenschreiben, gespenstisch normal: Koffer und Rucksack dürfe man mitnehmen, im Handgepäck Essgefäß, Trinkbecher und Lebensmittel. Die Schlüssel, Wertsachen und eine Vermögensaufstellung seien den abholenden Beamten zu übergeben.

 

Die ersten Züge starteten vom Bahnhof Grunewald als Personenzug. Ordner halfen beim Koffertragen und Einsteigen. Betroffen waren auch Kinder der letzten jüdischen Schule in Berlin, der Jugend-Alija-Schule in der Choriner Straße. Jizchak Schwersenz war der Schulleiter:

 

Wir haben häufig in der Schule Abschied nehmen müssen von solchen, die "die Listen" bekommen haben und uns das mitteilten. Die Listen also, die zugeschickt wurden, in denen stand, was man mitnehmen darf und was man nicht mitnehmen darf, daher "Listen" - und wir haben regelrecht immer Abschied genommen.

 

Der Lehrer gab den Mädchen und Jungen ein Stückchen Kordel zur Erinnerung mit. Die Schule war der jüdischen Jugendbewegung und der Reformpädagogik verbunden und wollte junge Menschen auf die Alija, die Emigration nach Palästina vorbereiten. Dort sollten sie in kleinen jüdischen Siedlungen leben. Nach Jahren der Entrechtung sahen viele jüdische Eltern darin eine Chance für ihre Kinder. Deshalb gab es an der Berliner Schule und anderen Einrichtungen auch Unterricht in Hebräisch, Palästinakunde, Landbau. Von den Nationalsozialisten toleriert, war die zionistische Jugendalija-Bewegung lange eine Insel der Hoffnung, für Kinder wie Pädagogen.

Vor allem möchte ich nochmal betonen das Wort von Ernst Simon: Was wir zu tun haben, forderte er, ist: geistigen Widerstand aufzubauen. Die Kinder waren zukunftsfreudig, frohgemut, zumindest, solange sie innerhalb der Mauern der Schulen gewesen sind.

 

Nach Beginn der Deportationen war keine selbstbestimmte Emigration mehr möglich, die Jugend-Alija-Schule musste schließen. Entlassene Lehrer wie Schwersenz wurden Zwangsarbeiter, wie alle anderen Juden ab 14 Jahren.

 

Die jüdische Gemeinde muss die Synagoge Levetzowstraße als Sammellager für die Deportationen zur Verfügung stellen. Schwersenz fährt nun Suppenkübel dorthin, um die Menschen zu versorgen. Er sieht seine Tante mit einem Blechnapf in der Schlange stehen. Schüler erkennen ihn. Doch er darf mit niemandem reden, keine Nachrichten aus dem Lager bringen. Er tut es trotzdem. Über allem liegen die Drohgebärden der Gestapo und ein striktes Schweigegebot.

 

Dass es um Leben und Tod ging, ahnen im Herbst 1941 nur wenige. Eine ist Edith Wolff, eine Kollegin. Von den Freunden wird sie Ewo genannt. Aufgewachsen in einem weltoffenen christlich-jüdischen Elternhaus, hat sie Hitlers Buch "Mein Kampf" genau gelesen und nimmt die mörderischen Absichten darin ernst. Sie beginnt, mit christlichen Helferkreisen ein Netzwerk für Untergetauchte aufzubauen.

"Nicht mitgehen, sondern untertauchen", heißt ihre Devise. Doch sie stößt auf unerwartete Schwierigkeiten, wie sie später in einem Bericht für die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem schreibt:

 

Das moralische Gewissen der Menschen gegen "verbotene" Wege richtigzustellen war bisweilen viel schwerer, als den technischen Apparat vorzubereiten, der zum Leben in der Illegalität gehörte. Mein Argument, dass es bei der herrschenden Unmoral gerade das einzig Moralische sei, sich zu widersetzen, verfing nur selten. 

 

Von ihr wurde erstmalig im Winter 1941/42 der Gedanke aufgebracht, man habe unterzutauchen, man habe sein Leben zu retten, man hat nicht der Anordnung Folge zu leisten, sich deportieren zu lassen. Und dann begannen monatelang die Diskussionen, ob ja ob nein. Für mich war es selbstverständlich: Wenn ich an die Reihe komme, dann gehe ich mit, wie fast alle anderen.

 

Die Jungen, Starken sollten die Älteren nicht im Stich lassen, ihnen vorangehen, hieß es zunächst in der Jugend-Alija-Bewegung. Edith Wolff interpretiert das "Vorangehen" anders: Schwersenz solle ausprobieren, wie es ist, illegal zu leben, um den Weg auch für bedrohte Jugendliche zu bereiten.

 

Als er im August 42 deportiert werden soll, hat sie schon einen gefälschten Ausweis und einen neuen Namen besorgt. Im Tiergarten wechselt er den Judenstern gegen ein NS-Abzeichen. Fortan lebt er irgendwo.

 

Ich hatte ja angegeben schon bei Schließung unserer Schule im Oktober 41, dass, wenn es nicht mehr weiterginge, man versuche, zu kommen bei Nacht in die Wohnung der Ewo. So war es mit ihr auch vereinbart.

 

Zum "Tag X" wird der 27. Februar 1943, der Tag der sogenannten "Fabrikaktion". Die noch in Berlin lebenden jüdischen Menschen sollen aus Wohnungen und Fabriken geholt, draußen aufgegriffen, auf Lastwagen getrieben und deportiert werden. Das Propagandaziel: ein "judenfreies" Berlin.        

 

Und da ich an diesem Tage gesehen habe, wie die Massenverhaftungen vor sich gingen, denn wir sahen die Lastwagen ständig durch Berlin fahren, voll mit jüdischen Menschen, war ich am Abend bei der Ewo in der guten Hoffnung - es war ja alles völlig unklar - dass sich einfinden würden dort von meinen Schülerinnen und Schülern.

 

Tatsächlich kommen an diesem und den folgenden Abenden 12 Mädchen und Jungen in die Wohnung von Edith Wolff. Als "privilegierter Mischling" ist sie noch nicht bedroht und kann den Flüchtigen einen gewissen Schutz bieten. Die zehnjährige Lotte hatte sich vor der Gestapo versteckt, als ihre Eltern abgeholt wurden. Ein Geschwisterpaar, Gad und Miriam, war verhaftet und wieder freigelassen worden. Der 14-jährige Heinz fand eine versiegelte Wohnung vor, als er von der Nachtschicht nachhause kam.

 

In einem Zeitzeugengespräch des Jüdischen Museums Berlin erzählte der Israeli 2020 davon. Sein hebräischer Name: Zvi Aviram.

 

Ich kam nach Hause… die waren tatsächlich da und wollten mich abholen. Da öffneten die Nachbarn ihre Tür, mit den Nachbarn lebten wir zusammen zehn Jahre, in Freundschaft. Die sagte zu mir: Heinz, die Gestapo war hier, du sollst zur Levetzowstraße kommen, dort sind deine Eltern, die warten auf dich. Da habe ich gewusst, das ist es. Jetzt ist der Tag gekommen, wo du beschließen musst, was wirst du tun.

 

Heinz sucht Rat bei Verwandten, die ihn wieder wegschicken. Dann trifft er einen alten Schulfreund in ähnlicher Lage. Der kannte Jizchak Schwersenz und Edith Wolff noch als Lehrer.

 

So bin ich dann mit dieser Gruppe zusammengekommen und habe tatsächlich zum ersten Mal Freunde gefunden, habe Menschen gefunden, mit denen ich mein Leid teilen konnte, denen ich meine Geschichte erzählen konnte, und die mir ebenfalls ihre Geschichte erzählten, sodass wir verbunden waren. Und wir fühlten auch, dass wir uns gegenseitig trauen können.

 

Die Gruppe gab sich den Namen Chug Chaluzi, Kreis der Pioniere. Einige der Jungen und Mädchen können noch legal bei nichtjüdischen Verwandten wohnen. Die meisten aber darf es offiziell gar nicht mehr geben. Sie benötigen neue Pässe, Schlafplätze, Essen und Geld. Unermüdlich ist Edith Wolff unterwegs, um Helfer zu finden, Reiche und Arme, Bekannte und Unbekannte.

 

Da gab es die erste Gruppe, das waren die Helfer, welche ein Nachtquartier gaben. Die zweite Gruppe, die das nicht wagte, aber helfen wollte, das sind die Essensgeber, wie wir sie nannten. Die uns also zu einem Mittagessen in die Wohnung nahmen, weil das leichter war, und es war auf kürzere Zeit. Dann gab es die dritte Gruppe, das waren diejenigen, welche nur an der Wohnungstür Geld gaben, damit wir uns ein bisschen was kaufen konnten...

 

Mit Geld half auch der Hechaluz, eine zionistische Dachorganisation in der Schweiz. Was die Gruppe innerlich zusammenhielt, war die Hoffnung auf ein besseres Leben in Israel. Ein Gruppenlogo entstand, mit dem See Genezareth in der Mitte und Symbolen aus der jüdischen Jugendbewegung. Af Al pichen stand darauf, trotz alledem.

 

Man traf sich im Frühjahr und Sommer 1943 regelmäßig im Freien zu einer Art "Unterricht" - ein paar Worte Hebräisch, ein bisschen Englisch, die Lektüre eines Schiller-Dramas in einem Reclam-Heft, ein leises hebräisches Lied. Oder einfach nur im Gras liegen und sich austauschen.

Auch den Schabbat feierten sie oft gemeinsam, manchmal am Ufer der Spree:

 

Wir nahmen etwas vom Gras, das unter uns war, zerrieben das Gras und nahmen das für den Segensspruch über die Gewürze, die die Schönheit des Schabbat darstellen sollen. Ein Licht hatten wir nicht, eine Kerze, wie sie üblich ist, wir hatten eine Taschenlampe stattdessen. Unsere Treffen waren immer nur bei Nacht, der Schabbatausgang ist sowieso erst, wenn drei Sterne am Himmel zu sehen sind.

 

Fast ein halbes Jahr lang fühlte sich alles wie ein Wunder an. Doch im Herbst 1943 wendet sich das Blatt: Zunächst bekommt Edith Wolff eine Vorladung zur Gestapo, kommt in Haft. Ein Jugendlicher wird von Nachbarn verraten und in der Haft zu Tode gefoltert. Im Winter wird Jizchak Schwersenz zur Fahndung ausgeschrieben. Er flieht in die Schweiz, will die anderen nachholen, vergebens.

 

Doch einige der Gründungsmitglieder, darunter Gad und Miriam Beck sowie Heinz Abrahamsohn, bringen die Gruppe bis zum Kriegsende durch und helfen noch vielen illegal lebenden Jugendlichen und Erwachsenen.

 

Fast alle aus dem engeren Kreis des Chug Chaluzi haben überlebt. Viele sind nach Israel ausgewandert. Edith Wolff schreibt nach ihrer Befreiung aus der Haft: 

 

Es blieb zuletzt für alle, die je der Gruppe angehörten, nur eine Aufgabe: das Leben zu retten und den Nazi-Terror, die Schreckensherrschaft zu überstehen. Wir wollten im jüdischen Heimatland das Leben neu beginnen.

 

Heute werden die Mitglieder des Chug Chaluzi in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand geehrt. Weil sie der Verfolgung widerstanden haben - durch eine Hoffnung und ein gewagtes Leben im Untergrund.

Doch die Bedrohung für jüdische Menschen in Deutschland ist nicht vorbei. Immer wieder wird der Staat Israel dabei zum Hassobjekt. Kaum ist bekannt, wie sehr die Hoffnung auf einen eigenen Staat, eine sichere Existenz, ein Überleben des Holocaust erst möglich machte. 

 

Auch die Fluchtbewegungen unserer Zeit lassen Kinder und Jugendliche ohne Eltern stranden – bei uns! Sie können nur aufleben an einem sicheren Ort. Und mit der Hilfe von Menschen, die nicht bedroht sind.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, Moderato Pastorale, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

2. Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, Moderato, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

3. Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, In tempo di valse, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, Moderato pastorale, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

Allgemein galt die Auffassung, es gehe ins Arbeitslager. Das wurde auch verbreitet, und wir gingen in der Tat davon aus, dass dem so sei. Ich möchte heute sagen, wir taten das, weil der Mensch an Schlimmes nicht glauben will, sich ja vielleicht auch gar nicht hätte vorstellen können, was wirklich dann dort geschah.

 

Der jüdische Lehrer Jizchak Schwersenz in einem Interview 2001. Im Jahr 1941 war er 26 Jahre alt.

 

Man sprach von Arbeitslagern und man glaubte, wenn man gut arbeiten wird, wird man diese Zeit überstehen können. Lächerlich, heute gesehen oder später gesehen. Was machten alte Menschen, die mit auf den Transport kamen, in einem Arbeitslager, was machten kleine Kinder, ja zum Teil Säuglinge, in einem Arbeitslager!

 

Die Deportationen der jüdischen Bevölkerung aus Berlin begannen mit einer perfiden Täuschung. Anfang Oktober 1941 hatten die ersten jüdischen Familien die sogenannte "Anordnung zur Abwanderung" erhalten. Ein Behördenschreiben, gespenstisch normal: Koffer und Rucksack dürfe man mitnehmen, im Handgepäck Essgefäß, Trinkbecher und Lebensmittel. Die Schlüssel, Wertsachen und eine Vermögensaufstellung seien den abholenden Beamten zu übergeben.

 

Die ersten Züge starteten vom Bahnhof Grunewald als Personenzug. Ordner halfen beim Koffertragen und Einsteigen. Betroffen waren auch Kinder der letzten jüdischen Schule in Berlin, der Jugend-Alija-Schule in der Choriner Straße. Jizchak Schwersenz war der Schulleiter:

 

Wir haben häufig in der Schule Abschied nehmen müssen von solchen, die "die Listen" bekommen haben und uns das mitteilten. Die Listen also, die zugeschickt wurden, in denen stand, was man mitnehmen darf und was man nicht mitnehmen darf, daher "Listen" - und wir haben regelrecht immer Abschied genommen.

 

Der Lehrer gab den Mädchen und Jungen ein Stückchen Kordel zur Erinnerung mit. Die Schule war der jüdischen Jugendbewegung und der Reformpädagogik verbunden und wollte junge Menschen auf die Alija, die Emigration nach Palästina vorbereiten. Dort sollten sie in kleinen jüdischen Siedlungen leben. Nach Jahren der Entrechtung sahen viele jüdische Eltern darin eine Chance für ihre Kinder. Deshalb gab es an der Berliner Schule und anderen Einrichtungen auch Unterricht in Hebräisch, Palästinakunde, Landbau. Von den Nationalsozialisten toleriert, war die zionistische Jugendalija-Bewegung lange eine Insel der Hoffnung, für Kinder wie Pädagogen.

Vor allem möchte ich nochmal betonen das Wort von Ernst Simon: Was wir zu tun haben, forderte er, ist: geistigen Widerstand aufzubauen. Die Kinder waren zukunftsfreudig, frohgemut, zumindest, solange sie innerhalb der Mauern der Schulen gewesen sind.

 

Nach Beginn der Deportationen war keine selbstbestimmte Emigration mehr möglich, die Jugend-Alija-Schule musste schließen. Entlassene Lehrer wie Schwersenz wurden Zwangsarbeiter, wie alle anderen Juden ab 14 Jahren.

 

Die jüdische Gemeinde muss die Synagoge Levetzowstraße als Sammellager für die Deportationen zur Verfügung stellen. Schwersenz fährt nun Suppenkübel dorthin, um die Menschen zu versorgen. Er sieht seine Tante mit einem Blechnapf in der Schlange stehen. Schüler erkennen ihn. Doch er darf mit niemandem reden, keine Nachrichten aus dem Lager bringen. Er tut es trotzdem. Über allem liegen die Drohgebärden der Gestapo und ein striktes Schweigegebot.

 

Dass es um Leben und Tod ging, ahnen im Herbst 1941 nur wenige. Eine ist Edith Wolff, eine Kollegin. Von den Freunden wird sie Ewo genannt. Aufgewachsen in einem weltoffenen christlich-jüdischen Elternhaus, hat sie Hitlers Buch "Mein Kampf" genau gelesen und nimmt die mörderischen Absichten darin ernst. Sie beginnt, mit christlichen Helferkreisen ein Netzwerk für Untergetauchte aufzubauen.

"Nicht mitgehen, sondern untertauchen", heißt ihre Devise. Doch sie stößt auf unerwartete Schwierigkeiten, wie sie später in einem Bericht für die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem schreibt:

 

Das moralische Gewissen der Menschen gegen "verbotene" Wege richtigzustellen war bisweilen viel schwerer, als den technischen Apparat vorzubereiten, der zum Leben in der Illegalität gehörte. Mein Argument, dass es bei der herrschenden Unmoral gerade das einzig Moralische sei, sich zu widersetzen, verfing nur selten. 

 

Von ihr wurde erstmalig im Winter 1941/42 der Gedanke aufgebracht, man habe unterzutauchen, man habe sein Leben zu retten, man hat nicht der Anordnung Folge zu leisten, sich deportieren zu lassen. Und dann begannen monatelang die Diskussionen, ob ja ob nein. Für mich war es selbstverständlich: Wenn ich an die Reihe komme, dann gehe ich mit, wie fast alle anderen.

 

Die Jungen, Starken sollten die Älteren nicht im Stich lassen, ihnen vorangehen, hieß es zunächst in der Jugend-Alija-Bewegung. Edith Wolff interpretiert das "Vorangehen" anders: Schwersenz solle ausprobieren, wie es ist, illegal zu leben, um den Weg auch für bedrohte Jugendliche zu bereiten.

 

Als er im August 42 deportiert werden soll, hat sie schon einen gefälschten Ausweis und einen neuen Namen besorgt. Im Tiergarten wechselt er den Judenstern gegen ein NS-Abzeichen. Fortan lebt er irgendwo.

 

Ich hatte ja angegeben schon bei Schließung unserer Schule im Oktober 41, dass, wenn es nicht mehr weiterginge, man versuche, zu kommen bei Nacht in die Wohnung der Ewo. So war es mit ihr auch vereinbart.

 

Zum "Tag X" wird der 27. Februar 1943, der Tag der sogenannten "Fabrikaktion". Die noch in Berlin lebenden jüdischen Menschen sollen aus Wohnungen und Fabriken geholt, draußen aufgegriffen, auf Lastwagen getrieben und deportiert werden. Das Propagandaziel: ein "judenfreies" Berlin.        

 

Und da ich an diesem Tage gesehen habe, wie die Massenverhaftungen vor sich gingen, denn wir sahen die Lastwagen ständig durch Berlin fahren, voll mit jüdischen Menschen, war ich am Abend bei der Ewo in der guten Hoffnung - es war ja alles völlig unklar - dass sich einfinden würden dort von meinen Schülerinnen und Schülern.

 

Tatsächlich kommen an diesem und den folgenden Abenden 12 Mädchen und Jungen in die Wohnung von Edith Wolff. Als "privilegierter Mischling" ist sie noch nicht bedroht und kann den Flüchtigen einen gewissen Schutz bieten. Die zehnjährige Lotte hatte sich vor der Gestapo versteckt, als ihre Eltern abgeholt wurden. Ein Geschwisterpaar, Gad und Miriam, war verhaftet und wieder freigelassen worden. Der 14-jährige Heinz fand eine versiegelte Wohnung vor, als er von der Nachtschicht nachhause kam.

 

In einem Zeitzeugengespräch des Jüdischen Museums Berlin erzählte der Israeli 2020 davon. Sein hebräischer Name: Zvi Aviram.

 

Ich kam nach Hause… die waren tatsächlich da und wollten mich abholen. Da öffneten die Nachbarn ihre Tür, mit den Nachbarn lebten wir zusammen zehn Jahre, in Freundschaft. Die sagte zu mir: Heinz, die Gestapo war hier, du sollst zur Levetzowstraße kommen, dort sind deine Eltern, die warten auf dich. Da habe ich gewusst, das ist es. Jetzt ist der Tag gekommen, wo du beschließen musst, was wirst du tun.

 

Heinz sucht Rat bei Verwandten, die ihn wieder wegschicken. Dann trifft er einen alten Schulfreund in ähnlicher Lage. Der kannte Jizchak Schwersenz und Edith Wolff noch als Lehrer.

 

So bin ich dann mit dieser Gruppe zusammengekommen und habe tatsächlich zum ersten Mal Freunde gefunden, habe Menschen gefunden, mit denen ich mein Leid teilen konnte, denen ich meine Geschichte erzählen konnte, und die mir ebenfalls ihre Geschichte erzählten, sodass wir verbunden waren. Und wir fühlten auch, dass wir uns gegenseitig trauen können.

 

Die Gruppe gab sich den Namen Chug Chaluzi, Kreis der Pioniere. Einige der Jungen und Mädchen können noch legal bei nichtjüdischen Verwandten wohnen. Die meisten aber darf es offiziell gar nicht mehr geben. Sie benötigen neue Pässe, Schlafplätze, Essen und Geld. Unermüdlich ist Edith Wolff unterwegs, um Helfer zu finden, Reiche und Arme, Bekannte und Unbekannte.

 

Da gab es die erste Gruppe, das waren die Helfer, welche ein Nachtquartier gaben. Die zweite Gruppe, die das nicht wagte, aber helfen wollte, das sind die Essensgeber, wie wir sie nannten. Die uns also zu einem Mittagessen in die Wohnung nahmen, weil das leichter war, und es war auf kürzere Zeit. Dann gab es die dritte Gruppe, das waren diejenigen, welche nur an der Wohnungstür Geld gaben, damit wir uns ein bisschen was kaufen konnten...

 

Mit Geld half auch der Hechaluz, eine zionistische Dachorganisation in der Schweiz. Was die Gruppe innerlich zusammenhielt, war die Hoffnung auf ein besseres Leben in Israel. Ein Gruppenlogo entstand, mit dem See Genezareth in der Mitte und Symbolen aus der jüdischen Jugendbewegung. Af Al pichen stand darauf, trotz alledem.

 

Man traf sich im Frühjahr und Sommer 1943 regelmäßig im Freien zu einer Art "Unterricht" - ein paar Worte Hebräisch, ein bisschen Englisch, die Lektüre eines Schiller-Dramas in einem Reclam-Heft, ein leises hebräisches Lied. Oder einfach nur im Gras liegen und sich austauschen.

Auch den Schabbat feierten sie oft gemeinsam, manchmal am Ufer der Spree:

 

Wir nahmen etwas vom Gras, das unter uns war, zerrieben das Gras und nahmen das für den Segensspruch über die Gewürze, die die Schönheit des Schabbat darstellen sollen. Ein Licht hatten wir nicht, eine Kerze, wie sie üblich ist, wir hatten eine Taschenlampe stattdessen. Unsere Treffen waren immer nur bei Nacht, der Schabbatausgang ist sowieso erst, wenn drei Sterne am Himmel zu sehen sind.

 

Fast ein halbes Jahr lang fühlte sich alles wie ein Wunder an. Doch im Herbst 1943 wendet sich das Blatt: Zunächst bekommt Edith Wolff eine Vorladung zur Gestapo, kommt in Haft. Ein Jugendlicher wird von Nachbarn verraten und in der Haft zu Tode gefoltert. Im Winter wird Jizchak Schwersenz zur Fahndung ausgeschrieben. Er flieht in die Schweiz, will die anderen nachholen, vergebens.

 

Doch einige der Gründungsmitglieder, darunter Gad und Miriam Beck sowie Heinz Abrahamsohn, bringen die Gruppe bis zum Kriegsende durch und helfen noch vielen illegal lebenden Jugendlichen und Erwachsenen.

 

Fast alle aus dem engeren Kreis des Chug Chaluzi haben überlebt. Viele sind nach Israel ausgewandert. Edith Wolff schreibt nach ihrer Befreiung aus der Haft: 

 

Es blieb zuletzt für alle, die je der Gruppe angehörten, nur eine Aufgabe: das Leben zu retten und den Nazi-Terror, die Schreckensherrschaft zu überstehen. Wir wollten im jüdischen Heimatland das Leben neu beginnen.

 

Heute werden die Mitglieder des Chug Chaluzi in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand geehrt. Weil sie der Verfolgung widerstanden haben - durch eine Hoffnung und ein gewagtes Leben im Untergrund.

Doch die Bedrohung für jüdische Menschen in Deutschland ist nicht vorbei. Immer wieder wird der Staat Israel dabei zum Hassobjekt. Kaum ist bekannt, wie sehr die Hoffnung auf einen eigenen Staat, eine sichere Existenz, ein Überleben des Holocaust erst möglich machte. 

 

Auch die Fluchtbewegungen unserer Zeit lassen Kinder und Jugendliche ohne Eltern stranden – bei uns! Sie können nur aufleben an einem sicheren Ort. Und mit der Hilfe von Menschen, die nicht bedroht sind.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, Moderato Pastorale, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

2. Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, Moderato, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

3. Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, In tempo di valse, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

Lysenko-Quartett und Naida Magomedbekova, Moderato pastorale, CD-Titel: Quintett für Klavier und Streichquartett 1972/76; Trio für Violine, Viola und Violoncello 1985

 

Jizchak Schwersenz hat über das jüdische Leben im Untergrund  ein Buch geschrieben: "Die versteckte Gruppe" https://www.wichern.de/produkt/jizchak-schwersenz-die-versteckte-gruppe/