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Dorothee Sölle: Das Gedicht "Street flower":
Am straßenrand blüht eine malve
eine knospe ist beinah offen
altrosa wird sie sein
vielleicht schon morgen
Hätt ich geduld
ich würde warten
hätt ich aufmerksamkeit
ich rührte mich nicht vom fleck
hätt ich frömmigkeit
hier würde ich niederknien
Vielleicht schon morgen
könnt ich sehen
nicht nur glauben
Das kleine Geschehen am Straßenrand – es lässt die Beobachterin teilhaben an der Schönheit der Schöpfung. Das kleine Geschehen - es könnte ihr etwas Großes offenbaren, wäre da nicht das Getriebe des Alltags.
Hätt ich geduld
ich würde warten
hätt ich aufmerksamkeit
ich rührte mich nicht vom fleck
hätt ich frömmigkeit
hier würde ich niederknien
Vielleicht schon morgen
könnt ich sehen
nicht nur glauben (1)
Vielleicht. Die Hinwendung zum Erhabenen bleibt ein Versuch, eine Annäherung und ist zugleich eine Urform der Dichtung. Funken des Göttlichen fänden sich im Alltag, lautet eine archaische Weisheit. Epiphanie, Selbstoffenbarung Gottes heisst der theologische Begriff. Dass Gott sich den Menschen in der Sprache offenbart hat, gehört zur Gründungserzählung vieler Religionen. Doch immer bleibt das Göttliche im Kern auch verborgen, soll unerkannt bleiben. Davon zeugen religiöse Bilderverbote und Namensverbote.
Der Mensch lebt also im ewigen "Beinahe", in der Sehnsucht nach Gotteserkenntnis. Die Bibel erzählt in poetischen Bildern davon, aber auch der Koran oder indische Mythen. Propheten, Mystikerinnen oder Poeten erlebten sich als Medium einer höheren Macht, wie der persische Dichter Djalaluddin Rumi, ein Anhänger des muslimischen Sufi-Ordens. Er schrieb vor 800 Jahren:
Ich bin nicht ich. Mein wahres Ich - wer mag es sein?
Der da aus meinem Munde spricht - wer mag es sein?
Bin bloß Gefäß von Kopf bis Fuß, nicht mehr.
Der, dem ich diesen Dienst verricht, wer mag es sein?
Dichtung, Mensch und Religion: sie waren immer eng miteinander verbunden. Poetische und religiöse Sprache ähneln sich – in ihrem Bilderreichtum, in ihrem Wunsch, das Geheimnis des Lebens zu verstehen, Fäden zu spinnen zwischen Himmel und Erde. Das beschreibt der Begriff Theopoesie. Dichtung kann einen ähnlich überzeitlichen Wahrheitsanspruch enthalten wie religiöse Schriften.
Dorothee Sölle entwickelte ihren eigenen, politisch orientierten Ansatz. Die Theologin und Autorin betrat ab 1965 die Bühne öffentlicher Diskurse in der Bundesrepublik, etwa auf Kirchentagen. Sie wurde bekannt als kritische Interpretin des Christentums, hinter sich die Erfahrungen der NS-Zeit, um sich herum neue Rüstungsdebatten, vor sich eine ungewisse Zukunft der Schöpfung. Ihre Habilitationsschrift schrieb sie zum Verhältnis von Theologie und Dichtung seit der Aufklärung. Ein eigentlich unpolitisches Thema: Schon im 18. Jahrhundert wurde darüber diskutiert, erzählt Dorothee Sölle in einem Interview 1981:
(O-Ton Sölle) Es gibt einen sehr schönen Satz bei Klopstock, dass einige Gedanken sozusagen nur an der Grenze zur rationalen Sprache ausgedrückt werden können, in der religiösen Sprache. Dazu gehören Gedanken über Gott zum Beispiel - in gewöhnlicher Weise kann man überhaupt nichts über Gott sagen.
Den Dichtern hingegen traute man schon damals zu, einer höheren Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Theologin entdeckt die Poesie auch für sich, als Raum nach Gott zu fragen. Die Verwandtschaft zwischen "Religio und Poesia" erklärt sie so: beide handeln - Zitat: "von dem, was uns unbedingt angeht". Damit greift sie einen Gedanken des liberalen Theologen Paul Tillich auf: Die Erfahrung des Unbedingten, des Heiligen könne sich in jedem Wirklichkeitsbereich ereignen. Sie nutzt in ihren Gedichten und Gebeten religiöse Traditionen und bringt sie mit persönlichen Erfahrungen zusammen, in zeitlosen Bildern:
Dorothee Sölle: "Kyrie" (Auszug):
Herr wir bringen vor dich alle unsere angst
die angst alt zu werden und die angst vor dem tod
die angst allein dazustehen und die verlassen zu werden
die angst vor den aufgaben denen wir nicht gewachsen sind
und die angst davor nicht gebraucht zu werden
alle ängste bringen wir zu dir gott
die die wir kennen und die die hinter den bekannten lauern
herr erbarme dich (2)
Bei aller Furcht denkt Dorothee Sölle eines immer mit: die Verheißung einer besseren Welt:
"Ein Gebet nach dem ersten Johannesbrief 3 Vers 2" (Auszug):
Und ist noch nicht erschienen was wir sein werden
o gott der du alles geschaffen hast
wann wird es so weit sein
daß wir es sehr gut nennen wie du
wann werden wir sichtbar
wann wird die wahrheit scheinen
Wann wird man an unseren gärten und feldern sehen
hier wohnen die sanften kinder der erde
die das vergewaltigen nicht gelernt haben
und das plündern verlernten
hier wohnen kleine menschen
die die türme nicht in den himmel bauen
und die tiere nicht zu tode testen
Gott du freundin der menschen freund der erde
komm bald
mach uns sichtbar
töchter und söhne
in deinem reich (3)
(O-Ton Sölle) Was mir ganz wichtig ist, dass die Menschen selber sprechen lernen. Ich finde zum Beispiel in dem Gedanken der Religion, dass jeder Mensch beten kann, dass es zum Menschen dazugehört, ist ja eine ungeheure Betonung der Kreativität. Christentum setzt eigentlich voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können. Das ist dasselbe mit den Augen Gottes gesehen.
Dorothee Sölle sucht selbst eine "neue Sprache" für den Glauben, befreit von Floskeln, alltagsnah und doch visionär. Viele Menschen sind angetan von ihren ehrlichen Fragen zu Religion und Leben. Aber auch von ihrem politischen Engagement, etwa beim regelmäßigen "Politischen Nachtgebet" in Köln.
Dabei wird Gott – nach den Verbrechen von Auschwitz – nicht mehr als allmächtig angesprochen. Vielmehr sei er auf die Hilfe der Menschen angewiesen, um eine gerechtere Welt zu schaffen. Die Theologin vertritt: "Gott hat keine anderen Hände als unsere".
Dorothee Sölle: "Ich dein Baum":
Nicht du sollst meine Probleme lösen
sondern ich deine gott der asylanten
nicht du sollst die hungrigen sattmachen
sondern ich soll deine kinder behüten
vor dem terror der banken und militärs
nicht du sollst den flüchtlingen raum geben
sondern ich soll dich aufnehmen
schlecht versteckter gott der elenden
Ich will nicht aufhören mich zu erinnern
daß ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens
Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
daß ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens (4)
(O-Ton Sölle) Die Religion war früher mal ne Sprache, die alle verstanden. Liebe deine Feinde, das ist absolut verständlich. Ganz einfache Dinge. Wenn man sie heute sagt, muss man sie so genau übersetzen, dass ihre Klarheit oder ihre Schärfe wieder hervortritt.
Und das lässt sich im Gedicht, im Gebet, oder Gebet und Gedicht werden dann eigentlich eins, das fällt zusammen, am besten tun.
(O-Ton Steffensky) Sie wußte, dass die Hoffnung nicht von Argumenten lebt. Jedenfalls nicht allein von Argumenten. Sondern dass sie große Sprache braucht, die über das Argument hinausgeht, und das ist das Gedicht und das Lied. Ist die Poesie.
Der Theologe Fulbert Steffensky, Mitstreiter und Ehemann Dorothee Sölles.
(O-Ton Steffensky) Ihre Theologie, ihr Glaube, ihre Religiosität hat sich immer geschärft, gebildet an realen Situationen. Es war ja nie eine abstrakte Wahrheit für sie, Wahrheit ist konkret, diesen Satz von Brecht hat sie oft zitiert, es gab für sie keine abstrakten Wahrheiten, sondern auf die Situation bezogene Wahrheiten und aus der Situation erhobene Wahrheiten. Das war schon ihre Eigenart.
Ihre Poesie ist oft nicht "schön" im üblichen Sinne. Manchmal zornig, verzagt oder fordernd. Diese Töne entsprachen der Zeit, in der sie lebte. Aber auch ihrer vielseitigen Persönlichkeit, die sich nicht einengen ließ.
Dorothee Sölle: "Minderheiten":
Lehre uns minderheit werden gott
in einem land das zu reich ist
zu fremdenfeindlich und zu militärfromm
pass uns an deine gerechtigkeit an
nicht an die mehrheit
bewahre uns vor der harmoniesucht
und den verbeugungen vor den großen zahlen (5)
Für ihre kritische Haltung wird die junge Theologin und Mutter geliebt, aber auch angefeindet, vor allem in Kirchenkreisen. Sie entdeckt Traditionen der Mystik als Kraftquelle, sucht für sich eine Kombination von Innerlichkeit und Verantwortung, von Mystik und Widerstand. In einem Gespräch mit dem Verleger ihrer Gedichte, Wolfgang Fietkau, sagt Dorothee Sölle 1981:
(O-Ton Sölle) Das ist mir eigentlich am allerdeutlichsten in der Arbeit für den Frieden geworden, da gibt es ja Situationen der absoluten Verzweiflung. Man weiß alles, das ist alles bekannt, das ist seit 30 Jahren diskutiert, jeder Mensch kennt die Fakten, und es geht immer weiter, wird immer schlimmer. Es verhungern immer mehr Menschen, die Überfressenheiten nehmen immer mehr zu, und so weiter…
Und in dieser Depressivität weiterzuleben, dazu brauch ich jedenfalls so eine Vergewisserung, dass ich eins bin mit der Schöpfung, mit der Natur, mit dem, wie das Leben wirklich sein sollte, wenn es also nicht kaputtgemacht wird ständig.
Dorothee Sölle:
"Vom Baum lernen"
der jeden Tag neu
sommers und winters
nichts erklärt
niemanden überzeugt
nichts herstellt
Einmal werden die bäume die lehrer sein
das wasser wird trinkbar
und das lob so leise
wie der wind an einem septembermorgen (6)
Andere Quellen der Kraft sind die Musik, Freundschaften, Familie, Liebe. Davon erzählt die Autorin leicht. Spuren des Religiösen werden oft angedeutet.
Dorothee Sölle: "Wohnen":
Du hast schlaf jetzt weiter gesagt ich gehe
das war ungewöhnlich
weil ich sonst frühstück mache
Du hast meine decke glatt gestrichen
das war ungewöhnlich
weil es zuletzt meine mutter getan hat
als ich krank lag
Du hast ein licht in den augen gehabt
das ich noch nicht gesehen hab
das war ungewöhnlich
darin kann ich wohnen (7)
Mit Gott reden, über das Göttliche nachdenken – Dorothee Sölles Theopoesie ist wenig schwärmerisch. Doch ihre Poesie hat viele Töne. Sie spricht Gott, auch als weibliches oder neutrales Wesen, oft schonungslos an. Ihre Sprache ist ehrlich, manchmal zart, verwunschen, prophetisch - und trifft oft mitten in die Krisen unserer Zeit. Dabei klingen biblische Bilder immer mit. Vielleicht berühren ihre Gedichte von Politik, Religion und Liebe auch deshalb immer noch. "Nichts geht verloren", meinte die Autorin, "einer hört alle Töne".
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Bläser-Improvisationen in der Kirche Bornstedt (Potsdam) von Pfarrer Friedhelm Wizisla (Rechte liegen vor).
Literaturangaben:
- "Street flower" aus: Dorothee Sölle, Zivil und ungehorsam, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1990, S.100. - "Kyrie" aus: Dorothee Sölle, Zivil und ungehorsam, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1990, S.69. - "Ein Gebet nach dem ersten Johannesbrief 3 Vers 2" aus: Dorothee Sölle, Zivil und ungehorsam, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1990, S.108. - "Ich dein Baum" aus: Dorothee Sölle, Loben ohne lügen, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Kleinmachnow 2000, S.12. - "Minderheiten" aus: Dorothee Sölle, Loben ohne lügen, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Kleinmachnow 2000, S. 14. - "Vom Baum lernen" aus: Dorothee Sölle, Fliegen lernen, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1979, S.4. - "Wohnen" aus: Dorothee Sölle, Soviel doch von Brot und Rosen, Gedichte.
© Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1981, S.80.
Die ungewöhnliche Schreibweise der Gedichte hat Dorothee Sölle festgelegt.