Wellen
Gemeinfrei via unsplash.com (Dan Grinwis)
Die Konferenz von Evian 1938
Gescheiterte Flüchtlingskonferenzen und ihre Folgen
22.07.2018 08:35
Sendung nachlesen:

Jizchak Schwersenz:

1938 war ich 23 Jahre alt, und wir lebten ja doch schon im sechsten Jahr des Dritten Reiches. Mit allen möglichen Beschränkungen, ständig neuen Anordnungen, Verordnungen, Geboten, Verboten.

 

Der jüdische Lehrer Jizchak Schwersenz. Er arbeitete damals in der Jüdischen Jugendhilfe in Berlin. Viele Bekannte waren schon ausgewandert. Berufsverbote, Demütigung durch die Nürnberger Gesetze, öffentliche Diffamierung bestimmten den jüdischen Alltag.

 

Jizchak Schwersenz:

Man gewöhnte sich. Man gewöhnte sich immer wieder und sagte sich: hoffentlich wird es nicht noch schlimmer kommen. Und man lebte, eigenartigerweise von heute betrachtet, man lebte ein in Anführungszeichen "normales Leben" weiter.

 

Doch die Situation veränderte sich im Laufe des Jahres dramatisch. Am 12. März 1938 hatte Hitler, wie es offiziell hieß, Österreich dem Deutschen Reich angeschlossen. Viele Österreicher waren begeistert. Die nun folgenden Judenpogrome übertrafen alles, was bisher denkbar schien. Unter den Augen einer johlenden Menge wurden Juden durch Wien getrieben und misshandelt, viele inhaftiert. Ein Vorgeschmack auf die Novemberpogrome 1938 in deutschen Städten. Viktor Klemperer aus Dresden, Hochschullehrer mit Berufsverbot, schreibt am 20. März 1938 in sein Tagebuch:

 

"Der ungeheure Gewaltakt der Österreich-Annexion. Die wehrlos zitternde Angst Englands, Frankreichs. Wir werden das Ende des Dritten Reiches nicht erleben. Seit acht Tagen klebt an jedem Pfeiler unseres Zaunes ein breiter gelber Zettel mit Davidstern: Jude."

 

 

 

Im besetzten Österreich beginnt eine Massenflucht der jüdischen Bevölkerung. Binnen zwei Wochen stehen Tausende an den Grenzen der Nachbarstaaten und bitten um Aufnahme. Auch in Hamburg, Berlin oder Dresden packen viele ihre Koffer. Doch wohin?

 

Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt ruft im Sommer 1938 zu einer internationalen Flüchtlingskonferenz. Sie soll stattfinden im Badeort Évian-Les-Bains am Ufer des Genfer Sees. Eine der ersten großen Flüchtlingskonferenzen, sagt die Juristin Katharina Stamm. Sie ist zuständig für Europäische Migrationspolitik bei der Diakonie Deutschland.

 

Katharina Stamm:

Die Konferenz von Evian, so war der Plan, hatte sich ja eigentlich zum Ziel gesetzt, die in großer Gefahr befindlichen Juden aus Deutschland herauszuholen, es sollten eigentlich alle Staaten nacheinander aufstehen und sagen, wie viele Plätze sie zur Verfügung stellen.

 

32 Nationen aus Europa und Übersee sagen ihre Teilnahme zu. Vom 6. bis 15. Juli 1938 nimmt die internationale Öffentlichkeit einen Moment lang Kenntnis von der Lage der Juden in Deutschland und Österreich. "Öffnet die Tore", titelt die Jüdische Rundschau am 5. Juli, einen Tag vor Konferenzbeginn. Der Berliner Pädagoge Jizchak Schwersenz beschreibt die Stimmung in jenen Tagen so:

 

Jizchak Schwersenz:

Die Erwartungen waren, dass vielleicht irgendeine große Auswanderungswelle hätte stattfinden können, es gab genügend Auswanderungswillige, Menschen standen, wie ich mich erinnere, an in langen Schlangen vor den diversen Konsulaten, und es wurde ja dann der Scherz gemacht: lies umgekehrt den Namen Evian, dann bekommst du heraus: Naive, nur Naive, so sagten wir, glauben an einen Erfolg von Evian.

 

Jüdische Organisationen brachten Empfehlungen mit für eine "geordnete Auswanderung" von etwa 200.000 Menschen. Jüdische Familien sollten möglichst zusammenbleiben. Eine großzügige Arbeitserlaubnis in den Gastländern sei wichtig, auch die Mitnahme von etwas Vermögen. Denn wer ausreisen will, muss neben Visagebühren, Schiffs- oder Bahntickets auch sogenannte "Vorzeigegelder" an die Aufnahmeländer zahlen und eine "Reichsfluchtsteuer" an die deutsche Regierung.

Dennoch: die Hoffnungen von jüdischer Seite sind groß.

 

 

 

Doch die Londoner Zeitung "Times" meldet am 4. Konferenztag aus Evian:

 

"Es kann nicht behauptet werden, dass die Konferenz einen guten Start gehabt habe. Eine Konferenz in der Hoffnung einzuberufen, dass schon irgendetwas dabei herauskommen werde, erweist sich jetzt als der beste Weg zu einem Misserfolg."

 

Was war geschehen?

Die meisten Diplomaten auf dem feinen Parkett des Kurortes nutzten ihre Redezeit vor allem, um zu erklären, warum ihre Länder keine oder nur ganz wenige Flüchtlinge aufnehmen könnten. Die jüdische Rundschau schreibt am 12. Juli:

 

"Der australische Delegierte betonte, dass die Regierung für die Einwanderung von Menschen britischer Herkunft bereit sei. Der belgische Vertreter betonte, dass sein Land infolge der Arbeitslosigkeit keine weiteren Verpflichtungen übernehmen könne. Der Sprecher Kanadas legte sich bezüglich der Einwanderungsquote nicht fest. Der Sprecher Großbritanniens bot Plätze in den afrikanischen Kolonien."

 

Nicht aber im britischen Mandatsgebiet in Palästina, dem Wunschziel vieler Juden.

Als sich am 15. Juli 1938 am Konferenzort die Aktendeckel schliessen, ist für die Flüchtlinge und Auswanderungswilligen so gut wie nichts erreicht. Im Gegenteil: hinter den Kulissen hatten sich Minister und Fachleute darüber ausgetauscht, welche neuen Restriktionen verhindern könnten, dass sich noch mehr Juden auf den Weg machten. Kaum ein Land erhöhte seine Flüchtlingskontingente. Katharina Stamm:

 

Katharina Stamm:

Ich glaube, das war eine große Überraschung, damit hatte keiner gerechnet, dass trotz der schrecklichen Nachrichten aus Deutschland sich kein Land bereit erklärte, und man weiß, dass viele Staaten sich auch vor der sogenannten "Verjudung" fürchteten, also die wollten auch keine Juden aufnehmen aus einem sehr rassistischen und antisemitischen Hintergrund heraus, also von Australien weiß man das zum Beispiel.

 

Für Adolf Hitler war das Ende der Konferenz Anlass zu Spott und Hohn: "Hilfe also keine. Aber Moral!", so wetterte er gegen "diese Demokratien". Eine großangelegte jüdische Auswanderung wäre ihm zu diesem Zeitpunkt durchaus recht gewesen. Doch nun verschärft das nationalsozialistische Regime die systematische Judenverfolgung.

 

1938 war ein Wendejahr, hier wurden Weichen gestellt. Für die Bedrohten war das Scheitern der Flüchtlingskonferenz von Evian eine Katastrophe. Nicht auszudenken, wie viele gerettet worden wären, wenn sie einen Fluchtweg gefunden hätten.

 

 

 

Jizchak Schwersenz:

Die Tage des 9. 10. 11. November 1938 waren dann der Beginn des Schreckens, des großen Schreckens.

 

Der Zeitzeuge Jizchak Schwersenz, der 2005 in Berlin starb.

 

Jizchak Schwersenz:

Ich selber sah das Feuer aus den schönen Kuppeln der Synagoge Fasanenstraße in Berlin herauslodern, Menschen schauten zu, es gab keinerlei Protest – ich ging durch die Straßen am 9. November und sah, wie die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte eingeschlagen wurden, und die Berliner in Anführungsstrichen "billig einkauften", plünderten, und es war die Massenverhaftung aller 16jährigen und darüber, der ich wunderbarerweise entgehen konnte.

 

Auch Viktor Klemperer, 57 Jahre alt, wird am 11. November frühmorgens vor den Augen seiner Frau verhaftet.

 

"Um vier stand ich wieder auf der Straße mit dem merkwürdigen Gefühl, frei – aber bis wann? Seitdem peinigt uns beide unablässig die Frage: Gehen oder bleiben? Ins Nichts gehen, im Verderben bleiben? Wir hielten ein Fortmüssen für absolut notwendig und begannen mit Vorbereitungen und Erkundigungen."

 

Das Paar muss erfahren, dass eine Emigration jetzt nur noch unter entwürdigenden Bedingungen möglich ist: erzwungener Hausverkauf, weitgehende Enteignung, Warten auf eins der raren und teuren Visa. Sie können sich schwer entschließen. 1939 ist eine legale Ausreise dann kaum noch möglich. Was bleibt, ist die nächtliche Flucht über eine grüne Grenze, mit falschem Pass und Bestechungsgeld, oder eine illegale Schiffsreise über das Mittelmeer, mit dem Risiko, dass niemand die Flüchtlingsschiffe an Land lässt.

 

Was wäre gewesen, wenn die Welt 1938 ihre Tore geöffnet hätte?

Katharina Stamm, die Expertin der Diakonie, hält es für wichtig, daran heute zu denken.

 

Katharina Stamm:

Das Scheitern der Konferenz hat Millionen von Menschen das Leben gekostet, so krass muss man das definitiv sagen, die Menschen hatten keine Perspektive aus Deutschland herauszukommen, hätte es Möglichkeiten gegeben, hätten viel mehr den Holocaust überlebt, dieses Einsehen hatten viele Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, aber leider zu spät.

 

Jizchak Schwersenz lebte lange Zeit versteckt in Berlin und konnte, steckbrieflich gesucht, 1944 noch in die Schweiz fliehen. Viktor Klemperer überstand die Nazizeit in Dresden durch die Hilfe seiner nichtjüdischen Frau. Millionen Menschen aber hatten dieses Glück nicht.

 

 

 

Nach dem 2. Weltkrieg zog die Völkergemeinschaft Konsequenzen aus der gescheiterten Konferenz von Evian.

 

Katharina Stamm:

Die wichtigste Erkenntnis aus der Konferenz von Evian war eigentlich, wir müssen wegkommen von dem Ermessen der Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, und hin zu einem individuellen Asylrecht. Was immer gilt und was nicht abhängig ist von der jeweiligen Regierung, und letzten Endes findet sich das Recht auf Asyl in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der Grundrechtscharta der EU, aber vor allem auch in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, wo das wirklich niedergelegt wurde.

 

Vielen ist heute diese Vorgeschichte nicht bewusst. So ist das in Europa geltende Asylrecht umfassend: Wer europäischen Boden betritt, hat das Recht auf eine individuelle und gründliche Prüfung seiner Situation.

Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen mit Hinweis auf sichere Drittstaaten, Asylzentren in den Herkunftsländern einzurichten – das gehe an die Substanz des Asylrechts, sagt Katharina Stamm.

 

Katharina Stamm:

Jetzt gibt es Bestrebungen, diese Menschen, bevor man ihr Asylgesuch prüft, wieder zurückzuschicken. Das heißt, sie betreten den Boden, und da wird aber erst mal geprüft, können die nicht in einen Drittstaat zurück. Oder in ein sicheres Herkunftsland. Das andere Land ist zuständig, man entledigt sich der Verantwortung. Und aktuell: Wie kann man sich diesem Grundrechtsschutz, den keiner so richtig abschaffen will, wie kann man sich diesem doch durch die Hintertür entledigen.

 

Das Diakonische Werk berät Flüchtlinge, Katharina Stamm und ihre Kollegen hören viele tragische Geschichten. Etwa zu den Folgen des ausgesetzten Familiennachzugs.

 

Katharina Stamm:

Ich persönlich kenne eine Familie, die zerrissen war. Die drei Söhne haben es geschafft, nach Deutschland zu kommen, sind auch alle anerkannt, die Familie ist teilweise noch in Syrien gewesen, in Rakka, und der minderjährige Bruder konnte aus Rakka rauskommen – die Eltern sind bei dem Versuch, aus Rakka herauszukommen, durch eine Bombe getötet worden. Die Zeit kostet Leben.

 

Die Fluchtgründe 1938 und heute unterscheiden sich, die Bilder ähneln sich. Und auch der Drang vieler Staaten sich abzuschotten, die Hartherzigkeit und Doppelzüngigkeit von Politikern.

Eine, die das bei der Konferenz von Evian schmerzlich erlebte, war Golda Meir, die spätere Ministerpräsidentin Israels.

 

"Dazusitzen in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?"

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Duett für Geige und Cello, Satz 3 "giocoso", Ulf Hölscher: Violine, Wolfgang Boettcher: Violoncello, Chamber Music
  2. "calmo", Ursula Trede-Boettcher: Klavier, Wolfgang Boettcher: Violoncello, Chamber Music
  3. Geige und Orgel, Marianne Boettcher: Violine, Peter Schwarz: Orgel, Chamber Music
     

 

Literaturangaben:

  1. Victor Klemperer, Hrsg: Walter Nowojski / Hadwig Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Das Tagebuch 1933-1945.
  2. Golda Meir, zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Évian.

 

Am Sonntagmorgen